„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – Gedanken zur Jahreslosung 2023

2.1.2023

Thorsten Latzel

„Irgendwann habe ich nicht mehr hingesehen. Keine Nachrichten mehr. Die täglichen Bilder von Krieg, Klimakatastrophe, Corona waren mir schlicht zu viel. Das ist natürlich keine ...
„Irgendwann habe ich nicht mehr hingesehen. Keine Nachrichten mehr. Die täglichen Bilder von Krieg, Klimakatastrophe, Corona waren mir schlicht zu viel. Das ist natürlich keine Lösung, aber ich musste mich irgendwie selber schützen.“ Als ein älterer Mann mir das vor einiger Zeit erzählte, konnte ich ihn gut verstehen. Das Jahr 2022 war heftig und hat viele belastet, nicht nur seelisch. Zu den großen Krisen kamen oft auch eigene, konkrete Probleme – etwa, weil das Geld nicht mehr reicht. Die Essenstafeln in unseren Gemeinden waren nie so voll wie jetzt. In Kitas wurden Kinder teils von kostenpflichtigen Angeboten abgemeldet. Dabei trifft es oft diejenigen, die es ohnehin nicht so dicke haben. Alleinerziehende, bildungsferne Familien. Doch: Selig die Augen, die da nicht hinschauen?
Die Jahreslosung für 2023 verheißt nicht, dass das einfach besser wird. Aber es ist eine starke Verheißung, die mir Kraft gibt. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13).
Der Satz stammt ursprünglich von Hagar. Sie ist eine junge Magd, eine Frau von unten. Ihre Herren, Abraham und Sara, sind ausgezogen in ein Land, das einmal ihre Kinder besitzen sollen. Doch sie bekommen keine. Nun soll ihnen Hagar auf Vorschlag Saras eines gebären. Sie wird von Abraham schwanger, gerät mit Sara aneinander, wird von ihr gedemütigt, gemobbt. Eine Geschichte, in der alle irgendwie ihr Ansehen verlieren. Hagar flieht in die Wüste, wirft sich hin, will nur noch sterben. Doch dann begegnet ihr ein Engel, der sie stärkt, ihr Hoffnung gibt und ihrem ungeborenen Kind eine große Zukunft verheißt. Und dann sagt Hagar eben diesen Satz: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Das hilft mir: zu wissen, dass Gott mitbekommt, was bei uns los ist. Wir sind mit dem ganzen Schlamassel nicht allein; dem großen in der Welt wie dem kleinen im eigenen Leben. Gott lässt unser Leid an sich heran, schaut nicht weg, hat offene Augen und Ohren für uns. Das hilft mir, weil ich dann nicht für alles zuständig bin. Gott hält die Welt in seinen Händen, nicht wir Menschen. Ihm kann ich klagen, was ich täglich sehe. Ich kann weiter hinschauen, weil Gott es auch sieht. Und ich kann zugleich meinen Blick dafür schärfen, was ich selbst tun kann.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Das ist auch wichtig für Menschen, die etwa von der Kriegsgewalt in der Ukraine betroffen sind. Ihr erlittenes Unrecht bleibt nicht verborgen. Gott schaut hin. Und Gott nimmt persönlich, was wir als seine Geschöpfe einander antun: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Die Gewaltherrscher dieser Welt werden mit ihrem Unrecht nicht durchkommen. Einmal wird all das vor Gottes Angesicht stehen.
Das gilt aber eben auch für die Leiden von Menschen, bei denen ich selbst im Alltag allzu oft wegsehe. Gott solidarisiert sich mit den Schwächsten. Jesus kommt selbst in einem Stall zur Welt, sieht als erstes in seinem Leben Vieh und einfache Hirten. Sie alle werden so zu angesehenen Personen vor Gott. Das stellt meine, unsere Vorstellung von oben und unten auf den Kopf. Wie kann ich Gott lieben, den ich nicht sehe, und meine Mitmenschen nicht beachten, die ich sehe? (1. Joh 4,20)
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Beim Sehen geht es immer auch um Ansehen und Anerkennung, letztlich um Menschenwürde. Bei einem Besuch in einer JVA habe ich einmal mit einem Menschen gesprochen, der einen Mord begangen hatte. Er erzählte mir, dass er lange nicht in einen Spiegel schauen konnte, selbst nicht beim Rasieren – aus Scham über das, was er getan hatte. Als ihn ein Gefängnis-Seelsorger besuchte, fragte er ihn: „Wieso reden Sie mit mir als einem Mörder?“ Der Pfarrer antwortete ihm: „Ich sehe keinen Mörder, sondern einen Menschen, der einen anderen ermordet hat.“ Das ist wichtig: dass wir in einander Menschen erkennen, mit einer unverlierbaren Würde – selbst dann, wenn wir in unserem Leben völlig scheitern und schuldig werden. Gott unterscheidet zwischen dem, wer ich bin, und dem, was ich tue. Gott sei Dank!
Umso problematischer ist mein oberflächlicher Blick, mit dem ich andere oft nicht wirklich wahrnehme, selbst wenn ich sie sehe: Ich sehe dein Auftreten, deine Kleidung, deine Frisur, deine Figur – und verstehe doch oft nichts von dir. Ich bin menschenblind. Bespiegele mich fortlaufend selbst in meinen eigenen Sorgen. Es braucht wohl den ganz anderen Blick Gottes, damit ich mich selbst neu sehe, mich annehmen kann – und auch meine Mitmenschen anders erkenne.
„Gott sieht uns“ – deswegen können wir uns selbst und andere neu sehen. Liebevoll, schöpferisch, frei. Das ist meine Hoffnung für 2023. Ihnen ein gesegnetes, neues Jahr!
Weil Du uns siehst
Weil Du uns siehst
ist nicht egal, was hier geschieht.
Kein Leid, keine Liebe, die nicht zählen.
Kein Schmerz, der Dich nicht berührt.
Du bekommst ihn mit: den ganzen Schlammassel.
Wir wissen oft nicht weiter. Keinen Schimmer.
Gut, dass die Welt in deinen Händen ist, nicht unseren.
Lass uns bloß nicht allein!
Sieh uns weiter an, Gott!
Schenk uns Ansehen – vor Dir und vor einander.
Weite unseren engen Horizont.
Und hilf uns, die Welt mit deinen Augen zu sehen.

Theologische Impulse (127) von Präses Dr. Thorsten Latzel
Weitere Texte: www.glauben-denken.de
Als Bücher: www.bod.de

Beiträge zu “„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – Gedanken zur Jahreslosung 2023

  1. 2. Absatz:
    „Die Jahreslosung für 2023 … ist eine starke Verheißung, die mir Kraft gibt. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13).“

    „Der Herr segne und behüte Dich. … Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir. … Der Herr erhebe sein Angesicht auf Dich“, Versprechen und Trost, wie ich es mehrfach in der Bibel finde.

    „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ von Hagar hier selbst gesprochen, dass sie diese Erfahrung machte und befreit wurde aus ihrem Elend.

    Fast ein bischen erstaunlich in so schwieriger Situation, wenn ich aus heutiger Sicht schaue:
    tröstendes Versprechen ungezählter Nachkommen, mit Ortsangabe des gelobten Landes, das Kind werde ein starker Mann, der es mit allen aufnimmt und der sich allen Brüdern vor die Nase setzt. Thema Leihmutterschaft? Demütigung und Mobbing? Fügung unter die Ordnung Herrin und Magd?
    Durch und durch ein Schauspiel zum Thema Respekt? Fast ein bischen zu wenig neutestamentarisch für das ganze Jahr:
    „Selig sind die … … Friedfertigen !“ (Bergpredigt) brauche ich auch 2023.

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