Einander Priester/in sein in Zeiten der Pandemie

25.10.2020

Thorsten Latzel

Symbolbild Wir leben in dünnhäutiger Zeit. Die Corona-Zahlen schnellen nach oben. Und kaum verheilte Wunden und Traumata des Lockdowns im Frühjahr reißen wieder: „Nicht schon wieder!“ ...

Wir leben in dünnhäutiger Zeit. Die Corona-Zahlen schnellen nach oben. Und kaum verheilte Wunden und Traumata des Lockdowns im Frühjahr reißen wieder: „Nicht schon wieder!“ Die Sorge, wenn Kitas, Schulen, Arbeitsplätze, Orte der Freizeit wieder geschlossen werden. Am Arbeitsplatz wie im Privaten kommt es so leichter zu Konflikten – einfach, weil die Nerven blank liegen. Bei der ersten Welle haben ja fast alle sehr verantwortlich und diszipliniert mitgemacht. Eine beeindruckende gemeinschaftliche Leistung! Jetzt aber kommen auch die Erinnerungen daran wieder, welche Belastungen das für viele bedeutet hat – seelisch, familiär, finanziell. Und im März war zudem Frühlingsanfang. Das Wetter wurde schöner, die Natur half mit. Erst standen die Oster-, dann die Sommerferien an. Jetzt gehen wir auf den November zu, der – auch ohne Corona – nicht eben zu den Wonnemonaten zählt. Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Ewigkeitssonntag. Da können leicht schon einmal apokalyptische Gefühle hochkommen.

Nun gibt es ein Buch in der Bibel, dessen besondere Stärke in der Verarbeitung solch apokalyptischer Gefühle und Ängste liegt: die Offenbarung des Johannes, die letzte Schrift im Neuen Testament, entstanden in der Zeit der Christenverfolgung. In ihr wimmelt es von starken Bildern und Texten – mal ermahnend, mal tröstend, immer voll Kraft und Leidenschaft. Es geht um Sendschreiben an sieben Gemeinden im damaligen Kleinasien, um ein Buch mit sieben Siegeln, die von dem Lamm (dem auferstandenen Christus) geöffnet werden, sieben Posaunen, deren Schall mit kosmischen Katastrophen einhergeht, dem Kampf von diabolischen (Drachen, die beiden Tiere) und himmlischen Kräften, das Jüngste Gericht, die „Hure Babylon“ und – am Ende – die wunderschöne, unbedingt lesenswerte Vision von einem neuen Himmel und einer neuen Erde (Kap. 21f.). Das Ganze ist sehr persönlich verfasst in der Ich-Perspektive, aus Sicht des Sehers Johannes, der „um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu Christi willen“ verbannt auf der Insel Patmos lebt (1,4.9; 22,8). Bei ihm handelt es sich ziemlich sicher nicht um den Evangelisten oder den Lieblingsjünger Jesu, mehr um eine Art frühchristlichen Propheten. Er berichtet von den tiefgreifenden Visionen und Auditionen, die ihm in der Begegnung mit einem Engel widerfahren. Es sind bewegende Texte, entstanden aus dem politisch erzwungenen „Lockdown“ eines Menschen, der seine Geschwister im Glauben durch seine religiösen Erfahrungen zu trösten und zu stärken versucht.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass das innovative Übersetzungsprojekt „Frankfurter Neues Testament“ in 2020 mit der Veröffentlichung gerade dieses Buches gestartet ist. Der Neutestamentler Stefan Alkier und der Altphilologe Thomas Paulsen eröffnen einen neuen Blick auf die Apokalypse, indem sie versuchen, den Text jenseits unserer üblichen christlich-theologischen Vorverständnisse bewusst im Kontext der damaligen Zeit zu übersetzen. Damit widersprechen sie heilsam einer platten Vereinnahmung gerade solcher Texte durch die aluminium-behuteten, selbsternannten „Untergangspropheten“ unserer Tage. Als wäre die Pandemie mit all ihren belastenden Umständen nicht schon anstrengend genug, kann einem solches Unsinns-Gerede von Weltverschwörung, Bill-Gates-Chips und WHO-Kartellen ziemlich auf die Nerven gehen. Wer Näheres zu dem Übersetzungs-Projekt erfahren möchte: Auf dem Youtube-Kanal der Evangelischen Akademie Frankfurt gibt es eine Einführung der beiden Übersetzer und beeindruckende Rezitationen des Textes, vorgetragen durch Peter Schröder (Schauspiel Frankfurt).

In den sieben Sendschreiben am Anfang (Kap. 2f.) werden die Gemeinden mit ihren Stärken und Schwächen konfrontiert. Beides tritt in Krisen-Zeiten deutlicher zu Tage. Das kennen wir auch aus der Pandemie. Krisen wirken wie Lupen, Brenngläser des einen wie des anderen. Und es sind Zeiten des Umdenkens, in denen es wichtig ist, das Gute zu pflegen und das Un-Gute zu lassen. Eine Formulierung aus dem fünften Sendschreiben an den „Engel der Gemeinde in Sardes“ hat mich in der letzten Zeit beschäftigt. Da heißt es zunächst ziemlich harsch, konfrontativ: „Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot.“ (3,1) O.k., Mut zu harten Wahrheiten, der Konflikt von Straßen- und Hausgesicht. Auch das kann es brauchen, wenn etwa das permanente Home-Office etwas mit einem macht, was einfach nicht gut ist. „Zooming alone“ ohne die so wichtigen kleinen Begegnungen zwischendurch ist keine „artgerechte Haltung“. Das tut uns weder als Einzelnen noch als Gemeinschaft auf Dauer gut. Wie wertvoll der Kaffee-Plausch ist, spüren wir erst, wenn er fehlt.

Doch erst danach kommt der, wie ich finde, wunderschöne, mich berührende Satz: „Werde wach und stärke das andre, das schon sterben wollte (…).“ (3,2) Was für eine starke Vorstellung! Seid für einander Priesterin, Prophet, Seelsorgerin in Zeiten der Pandemie. Habt im Blick, wenn eure Partnerin, euer Kollege, die Kinder, Eltern, Nachbarn an ihre Grenzen stoßen. Lasst nicht zu, dass einer von uns verlorengeht.

In den Medien wurde im letzten halben Jahr mitunter Kritik geäußert, dass die verfasste Kirche zu wenig sichtbar und hörbar sei. Die Frage nach der Systemrelevanz. „Das müsste doch jetzt eure Stunde sein.“ Nun haben die Gemeinden und Mitarbeitenden in den letzten Monaten Immenses geleistet – kreative Aktionen, Seelsorge im Persönlichen, neue digitale Angebote, geistliche Begleitung. Wie überall gab es auch hier „work in progress“ mit dazugehörendem Gelingen und Scheitern. Dennoch nehme ich solche Kritik immer sehr ernst, weil ja die Frage ist, was wir als Kirche hätten besser machen können und was davon bei anderen ankam oder auch nicht. „Deine Wahrnehmung ist deine Wirklichkeit.“ Und in der Kritik spiegelt sich ja eine positive Erwartung – auch wenn mir die Intention, religiöser Krisengewinnler zu sein, widerstrebt. Mein Problem steckt aber vor allem in dem „eure“. Ich halte es für einen verengten Blick, wenn in dieser Zeit religiös nur auf die institutionell verfasste Kirche geschaut wird. Gerade zum evangelischem Selbstverständnis gehört ja die Idee des „Priestertums aller Getauften“. Und wir sind über 20 Millionen Priester/innen – wenn man allein auf die evangelischen Kirchenmitglieder in Deutschland schaut. In der Zeit der Pandemie können die familiär-häuslichen Glaubensgemeinschaften eine neue Bedeutung bekommen – wie in urchristlichen Zeiten, wenn damals von den Gläubigen in ihren „Häusern“ die Rede war.

Corona wirft religiös für mich so vor allem die Frage auf nach dem wechselseitigen Zuspruch und der Tröstung unter uns Geschwistern. „Werde wach und stärke das andre, das schon sterben wollte (…).“ Nach evangelischer Auffassung ist – neben Predigt, Taufe und Abendmahl – dieser geschwisterliche Zuspruch eins der wesentlichen Kennzeichen der Kirche (so in den Schmalkaldischen Artikeln 1537, Art. III,4): das priesterliche, prophetische, seelsorgliche Dasein aller Christ/innen füreinander. Das Evangelische Gesangbuch, das eben nicht nur für den sonntäglichen Gebrauch gemacht ist, bietet für solch eine familiär-häusliche Glaubenspraxis viele Hilfen an: Psalmen, Gebete, Anleitungen für stille Zeit. Es wäre etwas Gutes im Schlechten, wenn die Pandemie auch dazu führen kann, dass wir neu entdecken, was wir geistlich aneinander haben. Wenn sie dazu beiträgt, religiös wach zu werden und stärkend für andere da zu sein.

Füreinander Priester/in sein

Unterbrich mich heilsam,
wenn ich wieder im und am Rad drehe.
Ruf mich zu Vernunft und Besinnung.
Sag mir, was ich mir selber nicht sagen kann:
dass ich geliebt, wundervoll, frei bin.
Lies mir vor aus den alten Geschichten,
von Wüsten und Wundern,
vom neuen Himmel und der neuen Erde,
vom Gott der Liebe, der über mir, um mich, in mir ist.
Brich mir das Brot, wenn es Abend wird.
Zünd eine Kerze an.
Zeichne ein Kreuz auf meine Stirn, bevor ich schlafe.
Bete mit mir, für mich, wenn ich es selbst nicht mehr kann.
Lass uns schweigen, wenn uns beiden die Worte fehlen.
Halt mich, meine Hand.
Sei einfach da. (TL)

Theologische Impulse 73, von Dr. Thorsten Latzel

Foto: Mabel Amber auf pixabay.com