„Höher, schneller, weiter“ – Vom Segen und Fluch des Vergleichens

28.7.2024

Thorsten Latzel

Theologische Impulse 145 Hoeher schneller weiter „Höher, schneller, weiter.“ Unter diesem olympischen Motto werden die Athletinnen und Athleten zwei Wochen lang in Paris antreten. 10.500 Sportler/innen aus über 200 Nationen in 28 ...

„Höher, schneller, weiter.“

Unter diesem olympischen Motto werden die Athletinnen und Athleten zwei Wochen lang in Paris antreten. 10.500 Sportler/innen aus über 200 Nationen in 28 Disziplinen, Millionen Besucher/innen vor Ort und Milliarden Zuschauende weltweit. Für viele Athlet/innen ist es der Höhepunkt ihrer sportlichen Karriere, auf den sie jahrelang hingearbeitet haben.

Gebe Gott, dass die Sportler/innen ihre Leistung zeigen können, dass sie sich nicht verletzten und dass es faire, friedvolle, gesegnete Spiele sind.

„Höher, schneller, weiter.“ Der Satz stammt ursprünglich von dem Dominikanerpater Henri Didon bei einem Dorf-Schulsportfest – „citius, altius, fortius“. Wörtlich eigentlich „höher, schneller, stärker“. Er wurde dann vor 100 Jahren von Pierre de Coubertin bei den Spielen in Paris 1924 erstmals offiziell als Motto verwendet.

Der Satz steht zugleich für Segen und Fluch des menschlichen Vergleichens. Was wären wir ohne dieses „Höher, schneller, weiter“, ohne die Triebfeder des Vergleichens?

Wir kommen auf die Welt und messen sehr bald unsere Kräfte: An unserer Umwelt: „Komm, noch ein paar Schritte mehr.“ An unseren Geschwistern, den anderen Kindern am Spielplatz, im Kindergarten, in der Schule: „Wer ist als Erster beim Baum? Wer ist besser beim Armdrücken? Wer schießt mehr Tore beim Fußball?“ Bei all dem Wettstreiten lerne ich mich selber kennen, meine Kräfte, meine Grenzen. Ohne Vergleich, ohne Wettstreit kein Fortschritt. Das gilt für uns als Einzelne wie als Gesellschaft. Ohne kompetitiven Ehrgeiz, ohne Komparativ säßen wir gleichsam noch in den Höhlen oder auf den Bäumen.

Im Sport ist dies zum Lebensprinzip entwickelt worden. Eine Haltung von Ausdauer, Disziplin, Wettkampfgeist. Ich trainiere, strenge mich an, schiebe meine Grenzen raus. Paulus hat das in 1. Kor 9,24-27 eindrücklich beschrieben und auf den Glauben übertragen.

„Wisst ihr nicht: Die im Stadion laufen, die laufen alle,
aber nur einer empfängt den Siegespreis? Lauft so,
dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge;
jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen,
wir aber einen unvergänglichen.
Ich aber laufe nicht wie ins Ungewisse;
ich kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich schinde meinen
Leib und bezwinge ihn, dass ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.“

Die Verse sind eine Art Urtext protestantischer Arbeitsmoral. Und ich glaube, manchmal täte uns auch im Glauben etwas mehr sportliche Haltung, etwas spirituelle Sportlichkeit gut. Sportler/in wird man nicht am Sofa, sondern in der Arena. Das gilt übertragen auch für den Glauben, das Christsein.

Doch die Bibel erzählt eben auch von den Schattenseiten, vom Fluch des ständigen Sich-vergleichen-Müssens.

Er ist so alt wie die Menschheit selbst. Bereits bei Kain und Abel geht es darum: Wer ist Gott näher? Wessen Opfer sieht Gott an? Bis Abel tot am Acker liegt und sein Blut zum Himmel schreit. Die Geschichte zieht sich weiter durch vom Ringen um den Segen: Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Joseph und seine Brüder. Bis hin zu den permanenten Rangstreitigkeiten der Jünger Jesu: „Wer darf links und rechts von Jesus sitzen? Wer ruht an seiner Brust? Wer ist als erster beim Grab? Wer ist der erste im Himmelreich?“ Im Leben wie im Glauben werden wir das Vergleichen nicht los.

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard drückt die Folgen dieser Haltung kritisch so aus: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ Und Gottes Schöpfung weiß ein Lied vom „immer mehr“ zu singen, wie wir als Menschen maßlos über Grenzen gehen und auf Kosten anderer Geschöpfe leben. Höher bauen, schneller konsumieren, weiterreisen. „Schöner, reicher, glücklicher“. Nur mit über acht Milliarden Menschen auf der Erde und unserem Lebensstil funktioniert das nicht.

Wie lässt sich also das Positive des Wettkampfgeistes aufgreifen, ohne dem Fluch des Vergleichens zu erliegen? Dazu ein paar offene Gedanken – im Anschluss an Paulus:

1. Denk immer daran, dass wir Menschen und nicht Gott sind.
Das gilt für alles, was wir tun, schaffen oder leisten.

  • Wie bescheiden nehmen sich etwa die Pyramiden oder der Eiffelturm aus, verglichen mit dem Mont Blanc oder dem Mount Everest?
  • Wie klein sind der Panama- oder Suez-Kanal im Vergleich zum Amazonas, Nil oder Jangtsekiang?
  • Wie niedlich ist der Park von Versailles im Gegenüber zu den Great Plains oder den Regenwäldern?

Und auch unsere größten sportlichen Höchstleistungen als Menschen wirken in der Weite von Gottes Geschöpfen übersichtlich.
Was würden wohl ein Gepard, ein Delfin oder ein Adler denken, wenn sie unsere Spiele beobachten würden? Also: Freue Dich an dem, was Dir Gott an Gaben gibt, und bleib auf dem Boden. Es braucht beide: Bescheidenheit und sportliche Ambition.

2. Als Kirche wie als Gesellschaft tut es uns gut, wenn wir das „Höher, schneller, weiter“ auf Glaube, Liebe und Hoffnung beziehen – und damit die Logik des Vergleichens grundlegend verändern.

Dann geht es nicht darum, dass Sie oder ich besser sind als andere. „Wer wird der Premium-Jesus-Jünger dieses Monats?“ Sondern darum, dass wir uns mehr und mehr von Gottes Liebe bestimmen lassen: jede, jeder für sich und gemeinsam als Team. Dass wir brennender lieben, fröhlicher glauben, getroster hoffen, mutiger leben. Das wäre mal eine sportliche Spiritualität! Und der Maßstab wäre dafür nicht, was wir sagen oder predigen, sondern was andere uns abnehmen. Was unsere Mitmenschen glauben, wenn sie unser Leben sehen. Ja, wir bräuchten vielleicht so etwas wie Olympische Spiele in den Disziplinen Glaube, Liebe und Hoffnung. Und in der Disziplin „Mut umzukehren und einfach zu leben“.

3. Die Pointe bei Paulus liegt darin, dass er den Gedanken sportlicher Ambition und Ehrgeizes kritisch gegen sich selbst wendet. Er dient gerade nicht dazu, sich über andere zu erheben: „Schau her, ich bin schneller, frommer, stärker, rechtgläubiger.“ Sondern er dient zur kritischen Selbstprüfung: „dass ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.“ Dazu hilft es, den eigenen Körper, die eigene Seele, den eigenen Geist täglich zu trainieren. Wie schnell werde ich oft tagtäglich davon bestimmt, dass einer von den dreien verrücktspielt? Wenn ich meinen Körper vernachlässige, ihn mit allem Möglichen vollstopfe und ihm keine Bewegung gönne? Wenn meine Seele sich verkrampft, verkrümmt und dringend geistlicher Dehnübung bedarf? Wenn mein Geist verkümmert, weil ich ihm nicht die notwendige Nahrung, Übung, Erholung biete?

Zum Glauben gehört es, alle drei zu pflegen: auch sportlich unseren Körper als Tempel des Heiligen Geistes.

4. Im Jahr 2021 wurde das Olympische Motto vom IOC erweitert um das Adverb „communiter“: gemeinsam. Das ist weise und klug angesichts wachsender globaler Krisen. Wir müssen schauen, welche Form des Sports uns als offener, demokratischer Gesellschaft guttut und welche nicht. Doch auch für olympische Sonntagsreden gilt: Walk the talk! „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ (Mt 7,20) Gerade bei sportlichen Großveranstaltungen ist es wichtig, dass sie nicht zu Lasten von sozial Schwächeren gehen, dass nicht alle die Kosten tragen und einige wenige die Gewinne, dass sie wirklich der Völkerverständigung dienen und nicht der politischen Selbstinszenierung der Mächtigen, dass die Sportverbände der Gesellschaft dienen, nicht umgekehrt, dass der Sport fair verläuft und es nicht Leistung um jeden Preis gibt – als fatales Vorbild und Spiegel der Gesellschaft.

Und schließlich 5. Am Ende des Lebens geht es um das, was Paulus den „unvergänglichen Siegeskranz“ nennt. Einmal werden wir, werde ich im Licht der Liebe Gottes stehen. Mit den hellen wie dunklen Seiten meines Lebens. Mit meinen Erfolgen und Fehltritten, mit all dem Glanz und Elend meines Lebens oder dem, was ich dafür halte. Von daher läuft neben dem, was ich für den „Wettkampf meines Lebens“ halte, immer noch eine andere Dimension ab. Eben ein Mich-Üben im Licht der Liebe Gottes zu leben: in Vertrauen, Lieben, Hoffen, Ehrlich- und Mutigsein.

Dazu schenke Gott uns Ausdauer, Kraft und Geduld. Und die Gewissheit, dass Jesus Christus diesen Wettstreit immer schon für uns gewonnen hat.


Theologische Impulse (145) von Präses Dr. Thorsten Latzel

Weitere Impulse: www.glauben-denken.de
Als Buch: www.bod.de
Bild: Pixabay

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert