Kleiner werden, fröhlich glauben und einladend handeln – Fünf geistliche Impulse wider Zahlenmystik und die Selbstverzwergung der Kirche

Theologische Impulse (161) von Dr. Thorsten Latzel

  • 27.3.2025

Heute sind die bundesweiten Daten der evangelischen und katholischen Kirche veröffentlicht worden. Sie spiegeln wider, was viele Gemeinden vor Ort erleben: einen starken Rückgang der Mitglieder durch die Verbindung von Austritten, Sterbefällen und weniger Taufen bzw. Aufnahmen. Für uns als Evangelische Kirche im Rheinland bedeutet das konkret: 70.000 Menschen weniger im vergangenen Jahr (minus 3,2 Prozent; Mitgliederstand 31.12.2024: 2,1 Millionen). In 2024 gab es rund 41.000 Sterbefälle, 42.000 Austritte (bei 2000 Aufnahmen) und 13.000 Taufen. Diese Zahlen sind wichtig. Sie wirken sich intensiv auf unsere Gemeinden, die kirchlichen Strukturen, Finanzen und vor allem auf die vielen Engagierten und Mitarbeitenden aus. Wie kann man angemessen damit umgehen?

Fünf geistliche Impulse:

  1. Klarer Realismus: Dass wir kleiner werden, ist ein geschichtlicher Prozess.
    Seit Ende der 1960er-Jahre, d. h. mehr als ein halbes Jahrhundert, haben wir Kirchenaustritte. Das ist Teil der De-Institutionalisierung wie Säkularisierung in vielen Ländern Europas, also des allgemeinen Rückgangs von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen einerseits und des Nachlassens religiöser Bindungen andererseits. Diese Großtrends werden wir nicht stoppen können. Wir müssen sie annehmen und klug gestalten.
    Zugleich erleben wir gegenwärtig eine selbstbestärkende Beschleunigung der Prozesse. Während die Austritte seit Corona auf einem Allzeithoch liegen, sinken Aufnahmen und Taufen seit Langem ab. Mit der Folge: Wir müssen Kirche grundlegend verwandeln. Das ist unsere aktuelle Aufgabe in der wechselreichen Geschichte unserer Kirche. Veränderungen können frei machen – und sie strengen an. Danke Ihnen allen, die Sie sich dieser intensiven Aufgabe stellen.
  2. Starkes Engagement: Wir tun, was wir können, mit brennender Geduld – speziell: taufen!
    Soziale Trends oder Demografie können wir kaum beeinflussen. Daher ist es gut, sich auf das zu konzentrieren, was in unseren Händen liegt. Dazu gehören der aktive Kontakt zu Menschen, die Lebensbegleitung und speziell die Taufen: Taufen haben im Vergleich zu 2023 um zwölf Prozent abgenommen. Gegenüber den Vor-Corona-Jahren sind dies rund 30 Prozent, also pro Gemeinde rund zehn Täuflinge weniger im Jahr. Es ist immer weniger selbstverständlich, dass Eltern ihre Kinder taufen lassen. Das schreibt die Mitgliederverluste in die nächste Generation fort. Daher ist es wichtig, dass wir intensiv persönlich einladen und neue Taufanlässe schaffen (in Kitas, zum Schulstart, auf Tauffesten). Hier gibt es starke Beispiele in Gemeinden. Dazu gehört, Strukturen anzupassen, um diese kirchliche Kernaufgaben wahrnehmen zu können. Denn auch das zeigt die Statistik: Wer als Kind Gott nicht kennenlernt, findet als Erwachsener selten zum Glauben. Unsere Gemeinden leben vom persönlichen Kontakt.
  3. Protestantische Resilienz: Wir werden als Kirche Jesu Christi nicht von Zahlen bestimmt.
    Zahlen entfalten mitunter eine negative Wirkung bis hin zum Zweifel an der Zukunft von Kirche. Doch die Kirche Jesu Christi wird es geben bis ans Ende der Welt – dafür steht Gott selbst ein. „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen.“ (Sach 4,6) Und Gottes Schöpfergeist ist nicht gebunden an Statistiken. Zugespitzt formuliert: Auch wenn wir keine einzige Kirche hätten und nur zwei, drei Christ/innen wären, würden wir von Gottes Liebe in Jesus Christus weitererzählen. Denn aus ihr leben wir. Davon zu reden, ist unser Auftrag. Sonst werden es die Steine für uns tun (Lk 19,40). Lamentieren oder Resignieren sind keine protestantischen Haltungen. „Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7)
  4. Wider die kirchliche Selbstverzwergung: Wir nehmen wahr, wie reich wir gesegnet sind.
    Wir sind Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes, von Gott reich mit Gaben beschenkt (1. Kor 12). Dazu gehören vor allem die Zigtausenden von Menschen mit ihren vielfältigen gottgegebenen Fähigkeiten, die sich in unserer Kirche regelmäßig engagieren: rund 90.000 Ehrenamtliche und 21.000 Beschäftigte allein in der verfassten Kirche, dazu noch einmal das weite Feld der Diakonie. Danke an Sie alle! Allein die Evangelische Kirche im Rheinland hat fast doppelt so viele Mitglieder wie bundesweit alle politischen Parteien zusammen: 2,1 Millionen. Wir dürfen uns nicht kleiner machen, als wir sind. Auch im Blick auf staatlichen Religionsunterricht, theologische Fakultäten und Religionsfreiheit haben wir Möglichkeiten, wie sie die Kirche weltweit und in ihrer 2000-jährigen Geschichte selten hatte. Es ist gut, wenn wir unsere Chancen nutzen und unsere Gaben entfalten.
  5. Gelebte Hoffnung: Geschichte ist offen – und wir vertrauen: Gott wird es gut machen.
    Wie die Rolle der Kirche in Zukunft aussehen wird, wissen wir nicht. Es ist nicht gesagt, dass sich Prozesse einfach immer fortsetzen. Das zeigt die wechselhafte Geschichte allein des vergangenen Jahrhunderts. Gegenwärtig leben wir in stark disruptiven Zeiten, in denen Menschen neu nach Hoffnung, Halt, Sinn und Gemeinschaft fragen – und auch Institutionen neue Bedeutung bekommen. Auch viele, die kein Kirchenmitglied sind, wollen sich eine Gesellschaft ohne Kirche nicht vorstellen: ohne Nächstenliebe, Diakonie, Eintreten für Schwache, Kirchengebäude, Glaubenshoffnung, Seelsorge, christliche Feste, Chöre, Kitas, Religionsunterricht, Jugend- und Seniorenarbeit. Es ist gut, wenn wir andere einladen und gewinnen, damit all dies weiter möglich ist. Vor allem aber leben wir aus der tiefen Hoffnung, dass Gott regiert – die Welt und auch die Geschicke seiner Kirche. Unsere Aufgabe ist es zu beten, Menschen zu trösten, Liebe zu leben, für Gerechtigkeit einzutreten und das Evangelium weiterzusagen. Den Rest können wir getrost Gott überlassen.

 


Theologische Impulse (161) von Präses Dr. Thorsten Latzel

Weitere Impulse: www.glauben-denken.de
Als Buch: www.bod.de

  • Thorsten Latzel