„Wenn ich seh die Himmel …“ (Ps 8) – Vom Wunder menschlicher Würde

25.5.2024

Thorsten Latzel

wunder In diesem wie den letzten Jahren feiern viele regionale diakonische Werke 100-jähriges Bestehen. Was für eine lange, bewegte Zeit im Wechsel der Geschichte: Von der ...

In diesem wie den letzten Jahren feiern viele regionale diakonische Werke 100-jähriges Bestehen. Was für eine lange, bewegte Zeit im Wechsel der Geschichte: Von der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Terror-Herrschaft, über die Nachkriegsjahre mit Hungerwinter, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und die alte Bonner Republik bis hin zum wiedervereinigten Deutschland und der Gegenwart. 100 Jahre, in denen die Arbeit von einem Leitsatz geprägt war: „Wir möchten Menschen ein Leben in Würde ermöglichen.“ 100 Jahre – das ist so viel wie ein sehr langes menschliches Leben. Zugleich ist es nur ein Hauch angesichts der Ewigkeit Gottes. 100 Jahre – das ist ein Anlass, sich dessen neu zu vergewissern, wie das mit dem Menschen und seiner Würde ist, was der diakonischen Arbeit mithin Basis, Halt und Orientierung gibt.

Die Bibel ist eine „Magna Charta der Würde menschlichen Lebens“, in ihrem Wesen ein einziges großes diakonisches Manifest. Das beginnt mit der Erschaffung des Menschen, jedes Menschen als Ebenbild und Gleichnis Gottes, der Basis menschlicher Würde. Das geht weiter etwa über die Zehn Gebote: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland und aus der Knechtschaft aller Zeiten geführt habe: Lebe in Freiheit und achte die Würde jedes Menschen.“ Das spitzt Jesus Christus zu, indem er sich selbst radikal mit dem Schicksal jedes einzelnen hilfsbedürftigen Menschen identifiziert: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das ist Maßstab für die Ewigkeit. Und es zielt auf die große Verheißung Gottes, dass einmal alles Leid, Tränen und selbst der Tod ein Ende haben werden.
Wenn die Bibel von uns Menschen redet, dann tut sie das, indem sie von Gott redet. Weil Gott das Geheimnis der Welt wie unseres Lebens ist. Weil wir unsere Würde, unsere Schönheit, Abgründe und Verletzlichkeit, unsere endliche Freiheit ohne Gott nie richtig verstehen.

Ein Text, in dem sich das alles brennglasartig spiegelt, ist Psalm 8. Es lohnt sich, ihn besonders in den Blick zu nehmen, weil sich in ihm die DNA der diakonischen Arbeit ausdrückt: Leben in Würde.

Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen,
der du zeigst deine Hoheit am Himmel!
Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan:
Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere,
die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.
Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!

Der Psalm beginnt und endet mit dem Gotteslob der Gemeinde:
Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!
Das ist wichtig – als radikaler Schutz gegenüber allen, die hier auf Erden beanspruchen, Herr über andere zu sein. Gott, der Schöpfer Himmels und der Erden und aller Menschen, ist allein unser Herr, sonst niemand. Für diesen Schutz menschlichen Lebens vor anderen Menschen tritt die Diakonie ein. Es gibt kein lebensunwertes Leben. Deswegen ist auch unser Grundgesetz, das in diesem Jahr auch Jubiläum feiert, von Artikel 1 her zutiefst diakonisch zu verstehen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ –eben, weil sie allein in Gott ruht.
Nicht in dem, was wir tun oder andere von uns halten. Nicht in den wechselnden Werten der jeweiligen Gesellschaft. Die Würde ruht in Gott, jenseits aller menschlichen Verfügbarkeit. Sie zu wahren, ist Basis und Ziel allen diakonischen Handelns. Und dies gilt für jeden Menschen, ohne Ausnahme.

Das wird deutlich, wenn der Psalm unmittelbar mit einer der schwächsten, vulnerabelsten Gruppen überhaupt fortfährt.
Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.
Es sind nicht die Schönen, Reichen, Mächtigen, die hier ins Zentrum gerückt werden. Keine Stars oder Influencer. Sondern Säuglinge und kleine Kinder. Sie stehen stellvertretend für alle Schwachen, Armen, Fremden, Einsamen, Kranken, Sterbenden. Dafür, dass menschliches Leben immer auf Hilfe angewiesen ist. Festen Grund unter den Füßen hat niemand. Auch wenn wir uns geflissentlich darüber hinwegtäuschen.
Zugleich tritt mit den Feinden hier die immer bestehende Gefährdung menschlicher Würde in den Blick. Sie geschieht dann, wenn Würde mit Wert verwechselt wird.
Nach Immanuel Kant, einem dritten Jubilar in 2024, ist es Ausdruck unserer Würde, dass wir niemals fähig sind, uns zu bewerten. „Würde“ ist jeder Werteskala und Verwendungslogik entzogen. Der Mensch ist immer Zweck, niemals Mittel für etwas anderes. Und allein der Versuch, menschliches Leben zu bewerten, hat mit zu den Katastrophen des letzten Jahrhunderts geführt.

An Stelle jeder Zweck- und Nutzenlogik tritt in Psalm 8 das Staunen.
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Das Staunen ist hier der Anfang des Glaubens: Es geht um die Würde des Menschen angesichts der Unendlichkeit des Alls. Welche Rolle spielen wir Menschen oder gar das Leben eines einzelnen im Gegenüber zur Unendlichkeit des Universums, das nach heutigen Schätzungen ca. 13,5 Milliarden Jahre alt ist? Beide Begriffe, die hier für uns Menschen verwendet werden, betonen unsere radikale Endlichkeit. Enosch, das kleine, vergängliche „Menschlein“, und Ben ha Adam, das Menschenkind: darin klingt unsere Abstammung von der Erde (Adama) an. Vergängliche Menschlein und Erdlinge – das sind wir. Umso größer das Staunen darüber, dass Gott sich uns zuwendet, dass Gott unserem kleinen Leben Würde verleiht. Denn genau darin liegt die Brücke zwischen beidem, dem unendlichen All und unserem vergänglichen Leben: in Gottes Zuwendung. Auch der Himmel ist „deiner Finger Werk“, Mond und Sterne „hast Du, Gott, bereitet“. Und auch sie sind vergängliche Geschöpfe.
Das Geheimnis von beiden, Welt und Mensch, ruht in Gott. In beiden spiegelt sich in aller Vergänglichkeit etwas von der Unverfügbarkeit und Erhabenheit Gottes. Deshalb haben beide teil an der Würde, die Gott ihnen verleiht. Deshalb kann man von jedem einzelnen Menschen auch als einer Welt im Kleinen reden: „homo mundus minor“. Deshalb ist es nicht egal, wie wir mit dem Leid anderer umgehen, ob wir Einsame besuchen, Kranke pflegen, Süchtigen helfen, Sterbende nicht allein lassen, Fremden Zuflucht und Heimat bieten.
Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Oder genauer gesagt: eine kleine menschliche Welt als Gleichnis von Gott als Schöpfer. Das lehrt uns die Liebe, die Gott in unser Herz gelegt hat.
Oder um noch einmal Kant zu zitieren:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht […]: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“
Der Glaube beginnt mit dem Staunen über Gottes Liebe in beiden.

Erst jetzt ist die Basis gelegt, um die anderen Verse des Psalms richtig zu verstehen.
„Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan:
Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.“
Diese Stellung ist von uns Menschen oft katastrophal missverstanden und missbraucht worden – bis hin zur globalen Zerstörung von Gottes Schöpfung in unserer Zeit: der Verschmutzung der Ozeane, dem Klimawandel, der Auslöschung von Arten, der Verwüstung ganzer Länder.
Auch die Stellung von uns Menschen in der Schöpfung lässt sich nur diakonisch angemessen verstehen. Wir sind von Gott beauftragt, seiner Schöpfung die Liebe zukommen zu lassen, aus der wir selber leben. Als Gotteskinder sind wir Diakoninnen und Diakone der Schöpfung. Und es ist gut, wenn wir den Grundsatz der Diakonie auf unser Verhältnis zur Schöpfung insgesamt übertragen:
„Wir möchten allen Geschöpfen ein Leben in Würde ermöglichen.“
Das ist unser Auftrag als Erstgeborene von Gottes neuer Schöpfung: wie Gott die Würde der anderen zu sehen und zu leben.

Theologische Impulse (140) von Präses Dr. Thorsten Latzel

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Foto: Pixabay

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