Der 29. Februar und das ewige Leben

1.3.2020

Thorsten Latzel

„Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag“. So lautet der Titel eines Buches der Journalistin Katrin Bauernfeind. Pointierter Ausdruck eines verbreiteten gesellschaftlichen Lebensgefühls in ...

„Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag“. So lautet der Titel eines Buches der Journalistin Katrin Bauernfeind. Pointierter Ausdruck eines verbreiteten gesellschaftlichen Lebensgefühls in der Turbo-Gesellschaft: Vor lauter Zeitmanagement und Termine kommt man nicht zum Eigentlichen. Und eine schöne Idee: ein Plus-Tag für all die unerledigten Dinge, für das ungelebte Leben – „endlich ich, Zeit für mich“.

Doch die Frage ist ja, was würde ich tatsächlich mit so einem Zwischen-Tag anfangen, wenn es ihn gäbe. Oder mit einem meiner Lieblingssätzen aus dem Briefroman „Die Leiden des Werthers“ zum 17. Mai:

„Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden.“

Nun, in 2020 gibt es ja ein solchen besonderen Tag. Zwar ist der 28. Februar ein normaler Freitag. Und der nächste Tag ein normaler Samstag. Aber der Wochenrhythmus kaschiert, dass es diesen Tag im sogenannten „Gemeinjahr“ nicht gibt: den 29. Febr., den 366. Tag. Den Bonus-Extra-Gratis-Tag im Schaltjahr.

Die Frage lautet also noch einmal konkretisiert: Was fange ich an mit diesem zusätzlichen Bonus-Extra-Gratis-Tag im Jahr. Ich glaube, die Antwort darauf, hängt damit zusammen, wie ich mir das „ewige Leben“ vorstelle. Drei Möglichkeiten:

Variante 1 – Die quantitative Lösung

Ich hole auf im Rennen gegen die Uhr. Und erledige alles, wofür mir sonst die Zeit fehlt: Sport machen, die Wohnung aufräumen, Wäsche bügeln, Katzenklo reinigen, Eis essen mit den Kindern, Freunde treffen, den Wocheneinkauf erledigen, Eltern besuchen, Rechnungen abheften, ein Buch lesen. Ein ganzer Tag – 24 h – mehr im Jahr, der März ist erst morgen.

Dem entspricht eine Vorstellung des ewigen Lebens als Verlängerung („prolongation“) der irdischen Spielzeit – die unendliche Abfolge von lauter 29. Februaren. O.K. vielleicht ohne Wohnung aufräumen, Wochenendeinkauf und Wäschebügeln. Aber ansonsten schon irgendwie eine Art des „ewigen Jetzt“.

Der Science-Fiction-Thriller „In time – deine Zeit läuft ab“ (2011) mit Justin Timberlake und Amanda Seyfried spielt diese Idee konsequent durch: das Leben wird quantitativ unendlich vermehrt, sofern man es sich leisten kann. Denn der Satz „time is money“ erfährt hier eine sehr wörtliche Interpretation. Die Lebensverlängerung findet, hollywood-like, in dem Stadium statt, in dem man es am meisten mag. Mitte Zwanzig. Forever young. Was nur etwas merkwürdig wirkt, wenn die eigene Mutter genauso alt wie die eigene Freundin aussieht. Eine wichtige Schlüssel-Szene kommt ziemlich am Anfang des Films: Einer der Superreichen mit einem ewig langen Lebenszeit-Konto bringt sich um, grundlos, einfach so. Es ist scheinbar nicht so leicht auszuhalten, immer jung zu sein. Jeden Tag Frühling, niemals Ernte oder Ende. Kein Segen schöner Endlichkeit.

Variante 2 – Die qualitative Lösung

Der 29. Februar als ein Tag, an dem ich völlig andere Dinge tue: ein verrückter Tag, um anderes zu tun, zu denken, zu erleben – der Sonntag unter den Sonntagen. Ich gehe an Orte, an denen ich noch nie war, treffe Menschen, denen ich noch nie begegnet bin, springe über jeden Horizont, der mir begegnete.

Von einem guten Freund habe ich vor langer Zeit einmal das Buch „Hinterm Horizont“ bekommen – mit 77 philosophischen Spielen, in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen. Die funktionieren ungefähr so:

Ich gehe heute in den Park und umarme die ältesten, dicksten Bäume. Reaktionen von Passanten und Parkwächtern einfach ausblenden. Schwierigkeitsstufe I.

Ich spiele Herzens-Entrümpelung – und schmeiße allen Seelen-Schrott raus, den ich anderen Menschen nachtrage. Herrlich entlastend. Schwierigkeitsstufe IV – V.

Ich hole mir eine Kamera und drehe den Tag über einen Film – nur über mich. Handlung völlig egal. Am Ende schaue ich ihn mir mit guten Freunden und bekomme alle Oskar: bester Darsteller, bestes Drehbuch, beste Regie. Schwierigkeitsstufe III.

Ich setze mich alleine in ein Café und beobachte eine viertel Stunde einen Menschen. Wie ein Engel. Und überlege, wie er oder sie lebt, was ihn erfreut, ihn belastet. Was er bräuchte um ein anderer zu sein. Danach unterhalte ich mich mit meinem eigenen Engel – oder wahlweise der anderen Person. Schwierigkeitsstufe II.

Dem entspricht ein Bild des ewigen Lebens als das „große Andere“. Das Paradies, der Garten Eden, das Schlaraffenland. Voll Süßigkeiten, die nicht dick machen. Einer Natur, die nicht pickst. Reine Lust, ohne Last. Licht, ohne Schatten.

So schön die Bilder sind, bleiben sie doch befangen in dem Entwurf einer Gegenwelt. Der häufig mit den den Farben und Tupfern dieser Wirklichkeit gemalt ist, fast wie ein übergroßer himmlischer TUI-Katalog.

Variante 3 – Die kategoriale Lösung

Ich tue an diesem Tag das, was ich sonst auch tue: Arbeiten, Wohnung aufräumen, Eltern besuchen, Kaffee trinken, Freunde treffen, Joggen – oder auch Bäume umarmen und mich mit Engeln unterhalten.

Aber ich tue es auf eine andere Art und Weise: im Horizont der Ewigkeit Gottes.

Mit dem Gefühl unendlicher Weite. Mit Dankbarkeit, tiefer Weisheit, Seelenweite, Großherzigkeit, Liebe, Kraft, Klarheit. Als Tag, der so auf ewig in Erinnerung bleiben sollte. Nicht etwas Anderes machen, sondern die Dinge anders machen. Schwierigkeitsstufe X.

Wie das konkret aussieht, ist ungleich schwieriger zu beschreiben. Weil die Ewigkeit, die Unendlichkeit, die Wirklichkeit Gottes eben nichts ist, was wir einfach so machen können. Sondern vielmehr etwas ist, was mit uns etwas macht. Was mich verändert. Mich anders werden lässt: dankbarer, liebender, geduldiger, brennender, freudiger, weiser, gnädiger, leidenschaftlicher.

Der 29. Februar als ein Tag, an dem ich mich selbst von der Höhe und Tiefe und Weite der Liebe Gottes verändern lasse. Ein Tag, um – wie es in einem alten Kirchenlied heißt – mein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen.

Und an dem ich mir bewusst werde, dass die vielen kleinen Dinge, die ich tue oder lasse, unendlich wichtig sind.

 

Theologische Impulse 52, von Dr. Thorsten Latzel