Der liebe Gott, meine Oma und die Sache mit den sauren Trauben

16.2.2020

Thorsten Latzel

Meine protestantische Arbeitsmoral habe ich von meiner katholischen Oma. Sie stammte wie mein Großvater aus Schlesien, dort besaßen sie einen Bauernhof. Sie war, so wurde ...

Meine protestantische Arbeitsmoral habe ich von meiner katholischen Oma. Sie stammte wie mein Großvater aus Schlesien, dort besaßen sie einen Bauernhof. Sie war, so wurde mir später gesagt, ein begeistertes Mitglied im BDM. 1945, als „die Russen“ kamen, musste meine Großmutter fliehen. Mein Vater war damals gerade mal ein halbes Jahr alt. Was sie als junge Frau auf der Flucht erlebt hat, weiß ich nicht. Darüber sprach meine Oma nicht, nicht mit uns.

In einem kleinen Dorf fingen meine Großeltern dann noch einmal bei null an. Als Flüchtlinge. Vertriebene. Meine Großmutter arbeitete, so viel sie konnte. Und das war sehr viel: Sie hatte eine Anstellung bei einem Arzt, war als Haushälterin in einer Metzgerei tätig, ging putzen, baute mit meinem Großvater zusammen ein eigenes Haus, bewirtschaftete einen eigenen kleinen Acker. Wenn wir am Samstagnachmittag zu den Großeltern fuhren, mussten wir meine Oma immer erst von der Arbeit abholen. Nach dem Kaffee-Trinken ging es dann oft noch zur katholischen Kirche. Dort war meine Oma als Küsterin tätig. Sie mähte zusammen mit uns das große Grundstück rund um die Kirche, schmückte den Kirchenraum mit frischen Blumen, kehrte das Laub oder schob Schnee. Für uns drei Kinder war es verboten und deswegen umso reizvoller, das „ewige Licht“ in der Kirche zu löschen. Nichts Irdisches brennt ewig. Später wurden wir alle protestantische Pfarrer/innen.

Immer, wenn ich die Geschichte von Maria und Marta (Lukas 10,38-42) höre, denke ich an meine Oma. Ich glaube, wenn Jesus in ihr Dorf gekommen wäre, wäre er sicher zu Hause bei meiner Großmutter eingekehrt. Vielleicht auch in der von ihr sauber geputzten Kirche.

Leben hieß für meine Oma wie für viele ihrer Generation arbeiten. Als sie einen Herzinfarkt bekam und nicht mehr arbeiten konnte, stürzte sie in ein tiefes Loch. Sie hatte nie gelernt, etwas mit ihrer freien Zeit anzufangen. Ruhe, Muße, Freizeit, die Seele baumeln zu lassen – das waren für meine Großmutter wirkliche Fremdwörter. Die anderen Leute aus dem Dorf luden sie immer wieder ein, doch mal zu Besuch zu kommen, auf einen Tee oder Kaffee. Schließlich kannte meine Oma ja alle. Und selten, sehr, sehr selten konnte sie sich auch einmal dazu aufraffen. Sie hatte nie gelernt, zu anderen Leuten zu gehen, wenn es nichts zu arbeiten gab.

Es wäre schön gewesen, wenn Jesus sie zu Hause besucht hätte. Ich hoffe nur, er hätte meiner Oma dann etwas anders zu sagen gehabt als der Priester an ihren Geburtstagen. Und auch als das, was Jesus damals zu Marta gesagt hat: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ 

Für Frauen wie meine Oma und die Marta aus der Bibel haben ich später einmal den Ausdruck „Kruschfrauen“ gehört: Frauen, die durch ihre Zeit, ihr Umfeld, ihr Leben so geprägt wurden, dass sie immer „herum-kruschen“, immer irgendetwas zu tun haben mussten. „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ „Sich regen bringt Segen.“ „Nutze die Jahre, lerne und spare.“ Und arbeite.

Sich dagegen so zu verhalten wie Maria und einfach nur den Geschichten zu lauschen, galt wie vieles andere als Zeitverschwendung, Herumschlunzen, Tagträumerei. Der sonntägliche Gottesdienst ging in Ordnung, schließlich galt es da etwas fürs ewige Seelen-Heil zu tun. Aber alles andere war unnötiger Luxus. Man war ja schließlich nicht die Königin von Saba. Wenn so etwas in biblischen Geschichten dann noch als vorbildlich dargestellt wird, war das sicher anstößig für Frauen wie Marta und meine Oma. Kognitive Dissonanzen, die aber im gottesdienstlichen Rauschen schnell untergehen.

In dem Roman „Im Frühling sterben“ (2015) erzählt der Autor Ralf Rothmann die Erfahrung des 17-jährigen Melkerlehrlings Walter Urban, der gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Caroli (alias „Fiete“) noch im Februar 1945 zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS zwangsrekrutiert und als frisches Kanonenfutter in den bereits verlorenen Krieg geschickt wird. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive des späteren Sohnes, der als Rahmenhandlung – ebenso wie sein Vater Walter während des Krieges – vergeblich nach dem Grab seines Vaters sucht. Der Roman handelt vom Dilemma von Schuld und Unschuld. Der junge Walter Urban versucht wiederholt, sich gegen die vielfältigen Gräueltaten der SS und Wehrmacht zu stellen. Am Ende wird er selbst einen einzigen Schuss auf einen Menschen abgegeben haben: auf seinen Freund Fiete, der wegen Fahnenflucht hingerichtet wird. Bei einem letzten Gespräch in dessen Zelle kurz zuvor erzählt ihm Fiete, wie sich die Erfahrungen seines eigenen Vaters aus dem ersten Weltkrieg auf ihn übertragen hätten:

„Und einmal, als ich meine Träume erwähnte, sagte er mir, dass es ein Gedächtnis der Zellen in unserem Körper gibt, auch der Samen- und Eizellen also, und das wird vererbt. Seelisch oder körperlich verwundet zu werden, macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder die Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder, sozusagen. Und später, wie liebevoll behütet sie auch heranwachsen mögen, haben sie panische Angst davor, gekränkt, geschlagen oder erschossen zu werden. Jedenfalls im Unterbewusstsein, in den Träumen. Eigentlich logisch, oder?“ Doch das gleiche – so die Pointe des weiteren Gesprächs wie des Romans insgesamt – betrifft eben auch die Täter, diejenigen, die andere kränken, schlagen oder erschießen. „‚Und was ist‘, fragte er [Walter Urban, TL] tonlos und räusperte sich, um zu seiner Stimme zu kommen, ‚was ist mit dem, der schießen muss? Was vererbt der?‘ […] Im Schein der hochfahrenden Flamme sah sein Gesicht momentlang wie früher aus […] und er lächelte matt und sagte: ‚Woher soll ich das wissen, Häuptling. Wahrscheinlich eine große Traurigkeit …‘“. Als Eingangszitat ist dem Roman ein biblischer Vers vorangestellt: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ (Ezechiel 18,2).

Das Ezechielbuch mit seinen Träumen, Visionen und Bildern ist selbst ein Versuch, mit den traumatischen Erfahrungen des Exils umzugehen – eine Art prophetischer „Trauma-Literatur“ (so Ruth Poser). Der in dem Buch zitierte Satz mit den sauren Trauben ist dabei ein bereits von Ezechiel aufgegriffenes Sprichwort, dem der Prophet aber im Auftrag Gottes leidenschaftlich widerspricht – zumindest was die individuelle Schuld-Verantwortung vor Gott betrifft: Jeder sei nur für sein eigenes Tun und Lassen vor Gott verantwortlich. Individuelle Verantwortung und Vergeltung – darauf zielt die Argumentation Ezechiels in dem ganzen 18. Kapitel. Doch das Buch selbst zeigt eben, wie tief die Folgen der Schuld- und Leidensgeschichte auch in der zweiten Exilsgeneration sitzen, auch wenn sie dafür vor Gott nicht verantwortlich sind. Die eigentliche Verarbeitung geschieht in der Gegen-Erzählung, in den Träumen, in der Entfaltung von geistlichen Hoffnungsbildern.

Ich glaube, dass wir uns selbst, unsere Art zu leben, zu glauben und zu arbeiten, unsere Traurigkeiten und unsere Träume, unsere Sehnsucht nach Heimat und unsere Ängste nicht verstehen, wenn wir nicht unsere Großeltern und so auch unsere Eltern verstehen. Wenn wir nicht verstehen, was unsere Großeltern an unsere Eltern und sie an uns weitergegeben haben: sei es durch Erziehung, sei es durch ihr Vorbild, sei es durch die epigenetische Veränderung ihrer „traumatisierten Gene“. Wir brauchen Gegen-Erzählungen, andere Träume, geistliche Hoffnungsbilder – auch für die Generation unserer Eltern und Großeltern.

Dann könnte eben auch der Satz Jesu an Marta und an Frau wie meine Oma einen neuen, ganz anderen Klang bekommen. Es ginge dann eben nicht um das Gegenüber einer höherwertigen „vita comtemplativa“ hier und einer nachgeordneten „vita activa“ dort. Sondern es ginge um das Durchbrechen eines Zwangs zur Re-Inszenierung von Traumata – für sich selbst und die kommenden Generationen: durch zur Ruhe kommen, durch Erzählen und Zuhören, durch die heilende Begegnung mit dem einen Anderen:

„Marta, es ist gut. Du kannst zur Ruhe kommen. Du brauchst nicht mehr zu fliehen. Weder vor dem, was Dir vielleicht angetan wurde. Noch vor dem, was Du vielleicht anderen angetan hast. Du bist zu Hause. Du kannst Dich hinsetzen, sitzen bleiben, einfach nur da sein. Du kannst erzählen und zuhören. Und in den Geschichten zu Dir selber kommen. Du musst Dich nicht mehr sorgen, mühen, arbeiten. Du kannst heil werden, damit es Deine Kinder und Enkel vielleicht einmal anders machen. Heil werden in der Begegnung mit der einen, all-umfassenden, schöpferischen Liebe Gottes, die Schuld in Vergebung, Flucht in Heimat, Leid in neues Leben verwandelt.“ 

Theologische Impulse 50, von Dr. Thorsten Latzel