Der Weg in das Land Bitterkeit

23.2.2020

Thorsten Latzel

Viele biblische Geschichten sind fremd, quer, sperrig, schwierig zu verstehen. Das ist normal -und in aller Regel auch gut so. Es sind Texte aus anderen ...

Viele biblische Geschichten sind fremd, quer, sperrig, schwierig zu verstehen. Das ist normal -und in aller Regel auch gut so. Es sind Texte aus anderen Zeiten, um eine andere Sicht auf die eigene Zeit zu gewinnen: auf mich selbst, die anderen, das Leben, die Welt und Gott. Fremde Worte, die, gerade weil sie in einem tiefen Sinne fremd sind, Neues eröffnen können. Die klassische Kanzel-Klage: „Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext ist ein schwieriger Text“, kann ich daher nicht verstehen. Damit umzugehen, ist Aufgabe des Predigenden. Entweder erschließt sich einem der Text als heilsam fremd – hoffentlich – oder man sollte schlicht einen anderen nehmen. Die Ordnung der Predigttexte ist ja kein Schicksal.

Nun gibt es allerdings eine Geschichte, die für mich eine echte Zumutung ist. Sie ärgert mich und regt mich auf, im Erwachsenen- noch mehr als im Kindesalter. Und sie führt mich an Grenzen des Verstehens. Ich meine die Erzählung von der Opferung oder genauer Bindung Isaaks (1. Mose 22). Um Gottes willen und um des Menschen willen: Ein Vater kann doch nicht sein eigenes Kind töten wollen!

– Ein unbegreiflicher Gott, der so etwas fordert.
– Ein enttäuschender Abraham, der sich ohne ein einziges Widerwort auf so eine Forderung einlässt.
– Ein unbefriedigender Schluss, an dem plötzlich Engel und Widder auftauchen und die unerwartete Lösung bieten.

Abraham kehrt heim, die Geschichte ist aus, ich aber ärgere mich weiter und meine Fragen bleiben offen. Dass das ganze „nur“ geschieht, um Abraham zu versuchen, macht es für mich um keinen Deut besser. Mit so etwas spielt man nicht. Auch der Deutungsversuch, dass es um die religionsgeschichtliche Ablösung von Menschen- durch Tieropfer gehe, erklärt nicht, wieso wir uns damit auseinandersetzen sollten.

In meinem bleibenden Ärger und Unverständnis spüre ich aber auch, wie mich die Geschichte fasziniert. Sie zieht mich an, weil sich in ihr eine Grenzerfahrung menschlichen Lebens spiegelt: Was ist, wenn ich das Wichtigste in meinem Leben hergeben soll, wenn mir mein Kind oder mein Partner, meine Gesundheit, meine Lebenshoffnung genommen werden, wenn ich kurz davor bin, an Gott, am Leben, an mir selbst zu verzweifeln?

Die Geschichte gibt darauf keine Antwort, die sich in einen Satz fassen lässt. Sie erzählt vielmehr vom einem Weg: von Abrahams Weg in das Land Morija, in das Land „Bitterkeit“. Sie erzählt davon, weil Menschen immer wieder den schweren Gang in dieses Land antreten müssen. Nicht, dass sich Abrahams Weg einfach übertragen ließe. Abraham ging seinen Weg, Sie gehen Ihren, ich gehe meinen. Aber manches von dem, was sich zwischen Gott und Abraham abspielt, kann helfen, ein Stück des eigenen Weges besser zu verstehen. Da kann Abraham zum Begleiter werden – nicht den ganzen Weg, aber doch das eine oder andere Wegstück. Deswegen – um Gottes und um des Menschen willen:

Erfahrungen auf dem Weg in das Land Bitterkeit.

1. Wegstück: Früh am Morgen aufstehen

„Und Gott sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“

Die Ärztin ist sehr einfühlsam, als sie das Ergebnis der Untersuchung mitteilt; sie nimmt sich Zeit, um alles genau zu erklären. Doch die Diagnose ist endgültig, unerbittlich wie ein Schicksalsspruch. Wie ein Gottesurteil, in dem Gott die eigene Gesundheit, den Partner oder die Partnerin, das Lebensglück zurückfordert: „Zieh aus aus dem Land der Gesundheit, aus Deinen Lebensträumen, aus dem, was Ihr Euch noch gemeinsam vorgenommen habt, in das bittere Land der Krankheit.“

So etwas gesagt zu bekommen, schmerzt und kostet Kraft. Es kostet Kraft, um die Spannung auszuhalten: Die Spannung zwischen meinem Leben, das plötzlich seinen Sinn verloren hat, und dem Leben um mich herum, das weiterläuft wie an jedem anderen Tag. Die Spannung zwischen dem Gott, der mir die Gesundheit, die Partnerin/den Partner, das Lebensglück schenkt, und dem Gott, der mir das alles wieder nimmt oder wenigstens nicht verhindert, dass es mir genommen wird. Die Spannung zwischen Wut und Angst, Hoffen und Heulen, Schrei und Stille in mir.

Der Weg in das Land Bitterkeit beginnt dann am Morgen danach.

„Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.“

Ganz normale Vorbereitungen für eine Fahrt, bei der man eine Weile von zu Hause wegbleibt: Das Auto schon mal aus der Garage fahren. Dem Partner Bescheid sagen, dass er endlich fertig wird. Noch schnell die letzten Sachen einpacken. Das übliche Gerenne, wenn es einmal früh am Morgen losgehen muss.

Die Versuchung ist jedoch, genau das nicht zu tun. So zu tun, als stünde die Fahrt in die Klinik nicht an. Wie sonst zur Arbeit gehen. Im Alltagstrott weiterleben wie vorher auch. Die Diagnose einfach nicht beachten. Flucht in eine heile Scheinwelt.

Oder aber die andere Möglichkeit: Dem Ganzen gleich hier und jetzt ein Ende setzen. Es hat doch sowieso keinen Sinn mehr. Wieso sich die Schmerzen, die Therapie überhaupt noch antun? Das bringt eh’ nichts mehr. Dann doch lieber gleich hier und jetzt: einfach zu viele Schlaftabletten – und alles ist überstanden.

Resigniert aufgeben oder weiterleben, als wäre nichts geschehen. Beides liegt verführerisch nahe, doch beides führt letztlich nicht weiter. Am Morgen danach kommt alles darauf an, dass ich den ersten, den schweren ersten Schritt auf dem Weg mache: Früh aufstehen, die Sachen packen und losgehen.

2. Wegstück: Miteinander gehen

„Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.“

Je länger der Weg sich zieht, desto schwieriger wird er. Zunächst sind noch die Freundinnen, Arbeitskollegen und Nachbarinnen da. Sie gehen ein Stück mit, rufen an, kommen zu Besuch in die Klinik. Doch nach drei Wochen, drei Monaten, drei Jahren lässt das irgendwann nach. Dahinter steht keine böse Absicht oder Lieblosigkeit; es ist einfach nicht mehr ihr Weg. Der Weg ist zu schwer, der Krankheitsberg zu steil, als dass man so einfach mitgehen könnte. Oft spürt das der kranke Mensch und lässt die anderen deshalb bewusst zurück: „Alles in Ordnung. Macht euch um mich mal keine Gedanken. Das wird schon wieder.“ Es reicht schon, dass es einem selbst zu schaffen macht.

Ab hier gehen der kranke Mensch und seine engsten Angehörigen – Frau oder Mann, Bruder oder Schwester, Kind oder Eltern – den Weg dann alleine weiter. Und die Lasten werden neu verteilt.

„Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander.“

Da gibt es die spitzen, gefährlichen Lasten der Krankheit, die dem kranken Menschen zu schaffen machen: Die Angst, die mich überfällt, wenn ich nachts allein im Zimmer liege und nicht schlafen kann; die brennenden Schmerzen; meine Unruhe, wie das Ergebnis der letzten Untersuchung ausgefallen ist. Und da gibt es den lästigen Kleinkram, die sperrige Last des Alltages, die ich als die Partnerin oder Partner noch mitschleppen muss: Rechnungen; Stress auf der Arbeit; die Steuererklärung, die unbedingt erledigt werden muss. Beide haben auf dem gemeinsamen Weg ihre Last zu tragen. Wer dabei stärker ist, wer schwächer, wer wen stützt – die Angehörige den Kranken oder umgekehrt -, kann man oft gar nicht sagen. Und immer wieder einmal wechselt das.

„Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.“

Wenn Menschen einen solchen Weg miteinander gehen, kommt es mitunter zu besonderen Gesprächen. Gespräche, in denen sie sich sagen, wie wichtig sie einander sind; Gespräche, in denen sie von dem reden, was ihr Leben trägt, worauf sie hoffen, was sie mit Gott zu tun haben. In solchen Momenten geht es nicht mehr um fromme Richtigkeit und tiefsinnige Gedankenspiele, sondern ums Eingemachte: Welchen Sinn hat es, überhaupt noch weiterzuleben? Von Gott bleibt einem Menschen dann manchmal nicht mehr zu sagen übrig als: „Gott wird … . Ich weiß nicht, was er tun wird, und ich weiß nicht, wie. Aber ich traue darauf, dass Gott handeln wird und dass er es für mich tun wird.“ Für den Menschen selbst mögen seine Worte unfertig, dünn, brüchig klingen. Ohne rechten Inhalt, nicht einmal ein ganzer Satz.

Aber in dem Satzbröckchen „Gott wird …“ zeigt sich Glaube in seiner tiefsten und stärksten Form. Tiefer, starker Glaube, der es aushält, dass die eigenen Träume und Hoffnungen sich auflösen. Tiefer, starker Glaube, der an Gott weiter festhält, auch wenn er ihn nicht verstehen kann, nicht mehr von ihm zu sagen weiß als „Gott wird …“. „Gott wird … – auch wenn ich nicht weiß, wie und was. Gott wird … – und deshalb gehe ich weiter und gebe nicht auf.“

3. Wegstück: An die Stätte kommen

„Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete.“

Irgendwann kommt der gemeinsame Weg dann an sein Ende. Der Tod zeichnet sich schon deutlich ab. Das Sterben wird jetzt nur noch eine Sache von Stunden sein. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht, wie gefesselt zu sein und nichts machen zu können. Und – so fremd das für Außenstehende auch sein mag – in dieser Situation fühlen sich Sterbende und Angehörige manchmal schuldig und verletzt zugleich. Widersprüchliche, harte Gedanken können einem sterbenden Menschen dann durch den Kopf gehen: „Ich darf ihn doch nicht mit den Kindern alleine zurücklassen. Wie soll er ohne mich denn klarkommen?“ „Wieso hilft er mir nicht? Er kann mich doch nicht so einfach sterben lassen.“ Ähnlich aufgewühlt mag sich dann auch mancher Angehörige fühlen: alleingelassen, verletzt, versagend, schuldig. Viele Dinge, die man sich noch hätte sagen wollen, bleiben ungesagt.

„Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt.“

Anders als bei Abraham bleibt das „Wunder“ auf dem eigenen Lebensweg leider oft, allzu oft aus. Keine plötzliche Genesung, auf die man irgendwie noch gehofft hatte, keine Rettung in letzter Minute, kein strahlendes Happy End. Stattdessen erfahren Menschen in Stunden des Sterbens Schuld, Schmerz und Verlust.

In ihrem Schmerz und Verlust wird es ihnen aber manchmal auch geschenkt, einander loslassen zu können. Es wird ihnen geschenkt, Abschied nehmen und ruhig sterben zu können. Tief im Innern spüren der sterbende Mensch und der Angehörige dann die Gewissheit, dass es jetzt gut ist. Das ist, wie wenn ein Engel zu einem spricht, wie wenn Gott selbst einen freispricht: „Du kannst und brauchst nichts mehr für die andere zu tun. Du darfst sie nun getrost loslassen. Jetzt bin ich für sie da.“ Vielleicht geschieht hier das eigentliche „Wunder“: einander in Liebe loslassen können.

„Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht.“

Wegen dieser Stätte ist es mir um Gottes willen und um des Menschen willen wichtig, von Abrahams Weg in das Land Morija zu erzählen: Mittendrin im Lande Bitterkeit gibt es die Stätte, „da der HERR sieht“. Mittendrin in der Erfahrung von Leid, Schuld und grauenvoller Götterdämmerung entdeckt Abraham, dass Gott auf seiner Seite, auf der Seite seines Sohnes steht, dass „Gott sieht“.

Und darauf hoffe und traue auch ich, wenn dieser Weg einmal anstehen wird: Mittendrin in meinem Land Morija, in dem mir das Liebste genommen wird, gibt es für mich eine Stätte, „da der HERR sieht“. Es gibt dort einen Ort, an dem ich entdecken kann, dass Gott auf meiner Seite ist und ein Auge auf mich hat. Das ist es, was dem Satzbröckchen „Gott wird …“ seinen Inhalt verleiht: „Gott wird …“ mein Leid sehen. „Gott wird …“ für mich da sein. „Gott wird …“ an meine Seite treten. An der Stätte, „da der HERR sieht“ , werde ich es erleben: „Gott wird …“.

Der Weg ist an dieser Stelle allerdings noch nicht zu Ende.

Ein wichtiger Abschnitt fehlt noch.

4. und letztes Wegstück: Wieder zurückkehren

„So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba, und Abraham blieb daselbst.“

Am Ende gilt es, wieder zurückzukehren aus dem Lande Bitterkeit, nicht für immer dort wohnen zu bleiben in den Erfahrungen von Krankheit und Sterben, von Leid und Verlust.

Nach dem langen Hinweg, der sich manchmal über Monate und Jahre erstreckt, sieht der Rückweg in den Alltag von außen recht kurz aus. Nicht weiter der Rede wert, etwas, was sich schnell abhandeln lässt. Doch auch dieser Weg braucht Zeit. Der Abstieg vom Krankheitsberg, den die Angehörigen dann allzu oft alleine gehen müssen, kann ebenso schwer sein wie der Aufstieg. Auch hier gibt es Lasten zu tragen. Auch der Rückweg dauert oft Wochen, Monate oder sogar Jahre.

Wichtig ist es jedoch, dass man ihn geht. Die Stätte, „da der HERR sieht“, ist der Ort, von dem aus der Rückweg beginnt.

Wieder hingehen zu den Freunden, Nachbarinnen und Arbeitskollegen. Mit ihnen sprechen über das, was auf dem Weg alles passiert ist. Und wieder ankommen am Brunnen von Beerscheba. Es ist der Ort, an dem sich Abraham mit seinen Nachbarn um Wasser zankte und wieder Freundschaften schloss, an dem er Handel trieb und Bäume pflanzte. Eben all die großen und kleinen Dinge des Alltages, die man am Dorfbrunnen, auf dem Marktplatz, am Gartenzaun so treibt. Sie sind jetzt wieder dran.

Wer einmal im Lande Bitterkeit gewesen ist, ist ein anderer geworden. Das Leid, der Verlust werden ihn weiter begleiten. Aber, weil er erlebt hat: „Gott wird …“, weil er die Stätte entdeckt hat, „da der HERR sieht“, kann er auch wieder zurückkehren zum bunten Treiben und dem oft lauten, hektischen Leben am Brunnen von Beerscheba.

Theologische Impulse 51, von Dr. Thorsten Latzel