Gelassenheit. Bei Schiffbruch und Gebet

24.5.2019

Thorsten Latzel

„Nichts ist so aufreizend wie Gelassenheit“. Der Ausspruch von Oscar Wilde vor über 100 Jahren hat an seiner rhetorischen Pointe nichts eingebüßt. Im Gegenteil. Gerade ...

„Nichts ist so aufreizend wie Gelassenheit“. Der Ausspruch von Oscar Wilde vor über 100 Jahren hat an seiner rhetorischen Pointe nichts eingebüßt. Im Gegenteil. Gerade in einer Zeit des kollektiven Burn-Outs, in der wir vor lauter Zeit sparender Technik gefühlt unter immer größeren Zeitdruck stehen, gewinnt Gelassenheit immer mehr an Attraktivität.

Der Züricher Literaturwissenschaftler Thomas Strässle hat in einem kleinen, klugen Büchlein die Geschichte und Vielschichtigkeit des Begriffs schön beschrieben. Gelassen nimmt man etwas, gibt man sich, wäre man gerne. Sorgsam zeichnet er diese drei verschiedenen Verwendungsweisen nach. „Gelassenheit“, so Strässle, „ist ein Projektionsbegriff – mit großer Konjunktur und geringer Kontur“. Ein Bild, das dabei oft für Gelassenheit verwendet wird, sei das des Meeres. Wie es die Alten formulierten: die Meeresruhe der Seele, die „tranquillitas animae“.

Was damit gemeint ist, zeigt auf beeindruckende Weise der Film „All is lost“ (2013). Robert Redford spielt darin einen Mann, der allein auf dem indischen Ozean segelt. Sein Boot wird von einem herumschwimmenden Container gerammt. Und dann beginnt der lange, einsame, schweigsame Kampf gegen den Untergang. Unter uns: Wem anderes als Robert Redford wollte man anderthalb Stunden bei so etwas zusehen? Wohl wissend von der Verlesung des Abschiedsbriefs in der ersten Szene, wie das Ganze ausgehen wird. Beeindruckend ist dabei die konzentrierte Ruhe, mit der er sich gegen den Untergang stemmt – ein Spiegel des weiten Ozeans um ihn herum. Und die stillen Gesten, mit denen er nach und nach immer mehr loslässt: zuerst das Schiff, dann die Flasche mit dem Abschiedsbrief, am Ende die Rettungsinsel. Nur äußerst wenige Worte werden während des ganzen Films gesprochen – als Notrufe und einmal in einer Szene der Verzweiflung: „SCHEIßE – GOTT – FUCK.“ Eine nachdenkenswerte Trias.

Gelassenheit. Sie hat viel mit der Haltung zu tun, um die es im Glauben geht. Eine Haltung, die zwischen Aktivität und Passivität changiert. Eine Haltung, in der ich ganz präsent bin, ganz bei mir bin. Und doch gerade so, dass ich drauf verzichte, etwas zu tun. Eine Haltung, in der ich lasse, geschehen lasse. So wie im Gebet oder im Glauben. Meister Eckardt brachte dies auf die Formel: „Man muss gelassen han, um gelassen zu sin.“ Ein abschiedliches Leben. In das Leben hinein zu sterben und in den Tod hinein zu leben. Die Kunst, loszulassen, zuzulassen, sich auf jemanden anderen zu verlassen.

Im Gebet spiegelt sich diese innere Haltung in der äußeren wider. Man faltet seine Hände, um sich dafür zu öffnen oder genauer: öffnen zu lassen, dass das eigene Leben letztlich in anderen Händen ruht. Man schließt seine Augen – in der Hoffnung, dass Gott uns sieht. Man kehrt ganz in sich – auf dass Gott sich der Welt zukehrt.

Das Entscheidende im Glauben ist nicht das, was man tut, sondern was einem geschieht. Und was einen frei macht, zu lassen.
Loslassen , was einen von anderen fernhält, was einen im „ewig Möglichen“ schweben lässt, den Traum von der eigenen Allmacht, die Angst zu kurz zu kommen, zu versagen, das, was einen erhaben, verbissen, zerstreut, nervös, unruhig, zynisch oder sonst wie macht.
Zulassen , dieser eine konkrete, begrenzte, endliche Mensch für andere zu sein, dass das eigene Leben geschieht, dass andere mir etwas schenken und dass andere meiner bedürfen.
– Und sich verlassen , sich ganz verlassen auf den einen Anderen.

Nicht aus mir selbst zu leben, sondern aus Gott.
Die eigene Mitte außerhalb meiner selbst zu haben. Im wahrsten Sinne des Wortes ex-zentrisch zu leben.
„Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin“.

Eine engagierte Gelassenheit aus Glauben.
Nicht im Sinne einer kalten Teilnahmslosigkeit, einer spirituellen Entrücktheit oder inneren, geistigen Überlegenheit.
Sondern im Sinne eines ex-zentrischen Lebens aus Gott.

Interessant ist es, was solch eine engagierte Gelassenheit aus Glauben nicht nur für den einzelnen bedeutet, sondern etwa auch für die Kirche:
Loslassen von den eigenen inneren Kirchenbildern, allen alles sein zu können, und von der Vorstellung, Kirche wie auch immer machen zu können;
Zulassen , dass wir in einer ganz eigenen Zeit mit ganz eigenen theologischen, kirchlichen, gesellschaftlichen Herausforderungen leben;
– Und sich darauf verlassen , dass Gott mit jedem Menschen, mit der Welt und mit seiner Kirche noch Großes vorhat.

Die Pointe dabei ist, dass man gerade auch die Gelassenheit nicht machen, sondern dass sie einem nur widerfahren kann. Gelassenheit ist ein Geschenk. Für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft.

Doch wenn sie einem widerfährt, dann kann man getrost mit dem Psalmbeter sprechen:
„Ich liege und schlafe und erwache, denn der Herr hält mich.
Ich fürchte mich nicht vor vielen Tausenden, die sich ringsum wider mich legen.“ (Psalm 3,6-7)

In diesem Sinne: einen guten, gelassenen Tag!

Theologische Impulse 20, von Dr. Thorsten Latzel