Hineni – oder: der stotternde Mose. Hommage an Leonard Cohen

22.3.2019

Thorsten Latzel

Ein persönliches Lied, ein voluminöses Kunstwerk und eine brennende Frage. Ein persönliches Lied Am 7. Nov. 2016 starb der kanadische Dichter, Komponist und Sänger Leonard Cohen. Bekannt ...

Ein persönliches Lied, ein voluminöses Kunstwerk und eine brennende Frage.

Ein persönliches Lied

Am 7. Nov. 2016 starb der kanadische Dichter, Komponist und Sänger Leonard Cohen. Bekannt geworden ist er durch Stücke wie Hallelujah, Suzanne oder So Long, Marianne. Zeitlebens litt Leonard Cohen unter schweren Depressionen. Er liebte intensiv verschiedene Frauen – ohne jemals verheiratet gewesen zu sein. Sein Großvater und Urgroßvater waren Synagogenvorsteher gewesen, seine Lieder sind tief geprägt vom jüdischen Glauben und der Sprache des Alten Testaments. Drei Wochen vor seinem Tod erschien sein letztes Album You want it darker.

In düsteren, melancholischen Liedern singt der jüdische Sänger Cohen in Form eines Liebesliedes über sich selbst und über Gott und über die unmögliche Möglichkeit, an ihn zu glauben. Eine hoch persönliche Ballade eines tiefgläubigen Atheisten, eines frommen Zweiflers.

“If you are the dealer / I’m out of the game
If you are the healer / I’m broken and lame
If thine is the glory / Then mine must be the shame
You want it darker / We kill the flame”

In einem anderen Stück des Albums – Treaty – spitzt Cohen seine Auseinandersetzung mit Gott noch weiter zu – bis hin zur Bestreitung von dessen Existenz, für die er sich paradoxer Weise bei Gott in einem Gebet entschuldigt.

“I’m so sorry for that ghost I made you be
Only one of us was real and that was me
A million candles burning
For the help that never came”

Ein voluminöses Kunstwerk

Im Rahmen der EKHN-Kunstinitiative „Gnade“ im Jahr 2017 kreierte der junge Stuttgarter Künstler Georg Lutz in der Martinskirche in Darmstadt das Kunstwerk „5 tons of prayer“. Wachs- und Kerzenreste von Gebets-Kerzen, die im letzten dreiviertel Jahr in einer Kölner Kirche abgebrannt worden waren. Georg Lutz hatte sie zu einem großen Reste-Berg angehäuft. Ein Kunstwerk, das durch seine schiere Masse sprach. Fünf Tonnen. Soviel, das zunächst unsicher war, ob das Kellergewölbe der Kirche sie würde tragen können. Stumme Spuren menschlichen Redens mit Gott. Eine Materialisierung von tausenden und abertausenden von Bitten, Dank, Klage, die an Gott gerichtet wurden. Gebete, von denen die Betenden hoffen, dass sie erhört werden. So, wie es die großen, alten Verheißungen der Bibel zusagen:

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Jes 42,3).

„Bittet, so wird euch gegeben. Suchet, so werdet, ihr finden. Klopfet an, so wird euch aufgetan.“ (Matt 7,7).

Der Gebetskerzen-Berg als ein Zeichen von Glauben und Zuversicht gegen die Dunkelheit.

Oder sind die Gebete mit den Kerzen verraucht und verloschen? Der Kerzenberg stünde dann als Monument für viele enttäuschte Hoffnungen. So, wie es auch die Mütter und Väter unseres Glaubens beklagt haben.

Etwa in Psalm 22, den Worten, mit denen Jesus am Kreuz starb:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht;
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“

“A million candles burning for the help that never came?”

Womit wir bei der brennenden Frage sind:
Ob Gott hört? Ob er unsere Bitten erhört? Ob unsere Gebete mehr sind als ein spirituelles Beruhigungsmittel – gut für Kinder, Alte, Kranke, Bettler und fromme Narren, die sich selbst nicht anders zu helfen wissen. Gnade und Gnadenlosigkeit: Das Gebet ist der Ort, an dem beides im Leben erfahren werden kann.

Bei der Frage, ob Gott hört, geht es um mehr als nur um fromme Innerlichkeit. Es geht letztlich um eine Hoffnung für die gesamte Schöpfung. Um eine Zukunft für uns, unsere Gesellschaft, unsere Welt – über das Vorfindliche hinaus. Eine Hoffnung jenseits von Optimismus, gegen den Augenschein, wider das Gefühl allgegenwärtiger Krisen.

Es gibt eine Geschichte in der Bibel, die in besonderer Weise von dieser Frage handelt, ob Gott hört. Die Geschichte vom brennenden Dornbusch. Es ist eine Geschichte von großer persönlicher Intimität, die Berufung des Mose. Es ist zugleich eine Geschichte von hoher gesellschaftlicher Relevanz, der Beginn der Rettung des Volkes Israel. Und es ist die einzige Stelle in der Bibel, in der Gott seinen Namen verrät.

Der Name Gottes ist zugleich der Schlüssel für die Frage, ob Gott hört. Es ist ein Name, der nicht zu übersetzen ist, weil er viele verschiedene Bedeutungsschichten hat. So verschieden, wie die Erfahrungen mit dem Gebet. Drei klassische Übersetzungsversuche, die alle etwas aussagen über Gott, den Menschen und die Frage, ob er unser Beten hört.

1. Ich werde sein, der ich sein werde
Im Gebet erfährt der Mensch die unfassbare Freiheit Gottes – und die eigene unbedingte Angewiesenheit auf ihn. In der Geschichte spiegelt sich dies in dem Bild des brennenden Dornbuschs. Er ist nicht zu fassen, unverfügbar, von letztgültiger, erhabener, unbedingter Freiheit. Mose zieht es die Schuhe aus. Er verhüllt sein Angesicht. Der Mensch als existentiell barfußes Wesen mit verhülltem Angesicht. Wir haben kein metaphysisches Fell, keine Schuhe, keinen sicheren Stand. Keinen klaren Blick auf die Welt, das Leben, auf Gott. Ein Gott, der für uns planbar, handhabbar, berechenbar wäre, wäre kein Gott. Wir sind – soweit wir es wissen – das einzige Geschöpf, das um Gott weiß. Und zugleich auch das einzige, das weiß, dass Gott uns nicht zur Verfügung steht. Wir haben es nicht in der Hand, dass Gott hört. Wir stehen geistlich barfuß da.

2. Ich werde da sein
Das Gebet ist sodann verbunden mit Erfahrung der verborgenen Gegenwart Gottes. Selbst in seinem Schweigen ist Gott da. Es ist eine zutiefst paradoxe Zuversicht des Glaubens, die oft selbst gegen die eigene Erfahrung steht. Die Zuversicht, dass Gott da ist. Dass er uns hört, selbst wenn er schweigt. Auch wenn das, was er hört, oft nur noch meine Klage über seine Ferne ist. In der Geschichte spiegelt sich das ebenfalls in dem Bild des brennenden Busches wider. Der Busch brennt als Zeichen der Gegenwart Gottes. Gott ist da, Gott hört. Und in diesem Falle spricht Gott sogar. Aus dem Busch erfolgt die Anrede an Mose. Gott sagt zu, dass er das Schreien seines Volkes hört, dass er sein Elend sieht, dass er da ist.

Gott wird da sein. Gott hört – auch wenn er schweigt. Das ist seine Zusage aus dem brennenden Dornbusch. Und es die unverwüstliche Hoffnung des Glaubens – immer wieder auch im Widerspruch zur eigenen Erfahrung der Gottesferne.

3. Ich werde für dich da sein – ich werde mit dir sein
Im Gebet erfahren wir schließlich manchmal, gebrochen, in Hoffnung, dass Gott hilft und dass wir frei sind. Gott mischt sich ein, macht das Leid Israels, der Menschen, der Welt zu seinem Leid. Und er macht Mose, sein Volk, den Menschen frei – um für andere da zu sein. Die Erfahrung des helfenden Eingreifens Gottes und der eigenen Freiheit zu lieben. Auch das gehört zum Gebet. In der Geschichte drückt sich dies in der Berufung des Mose aus. Es ist die Geschichte des hadernden, stotternden, zweifelnden Menschen – und des in ihn vertrauenden Gottes. Mose findet immer neue Gründe, warum er nicht der sein kann, der das Volk herausführt. Doch Gott nimmt ihn mit hinein in sein eigenes „Ich werde für dich da sein“. Dem Namen Gottes entspricht das Hineni des Mose vom Anfang: „Hier bin“. Wir werden als Menschen so selbst hineingenommen in die drei Namen Gottes und in den Prozess der Liebe, die sich darin ausdrückt: in seine Freiheit, in seine Gegenwart, in seine Selbsthingabe für andere. Wenn wir mit ihm das Schreien der andere hören, wenn wir uns nicht länger von dem eigenen Unvermögen bestimmen lassen, wenn wir unser Hineni sprechen.

Mit Leonard Cohen habe ich begonnen. Mit ihm möchte ich auch schließen. In einem früheren Stück Anthem gibt es einen wunderschönen Satz der Hoffnung wider allen Augenschein:

“There is a crack in everything
That’s how the light gets in.”

Unsere Brüche, unser Unvermögen, unser Stottern sind es, in denen das Licht der Hoffnung in unsere Welt dringt. Wie in der Berufung des hadernden Mose. Es sind die Risse, die wir zulassen; durch sie kommt für andere Licht herein.

Theologische Impulse 11, von Dr. Thorsten Latzel