Mit dem Sterbenden leben. Jesu letzte Worte

15.3.2020

Thorsten Latzel

Zu den größten Errungenschaften unserer Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren gehört meines Erachtens die Entwicklung der Hospizbewegung und der damit verbundenen Palliativarbeit. Gerade angesichts ...

Zu den größten Errungenschaften unserer Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren gehört meines Erachtens die Entwicklung der Hospizbewegung und der damit verbundenen Palliativarbeit. Gerade angesichts der obsessiven Inbrunst, mit der manche Zeitgenossen immer wieder vom „Untergang des christlichen Abendlands“ reden, tut es gut, an „Gelingensgeschichten“ wie diese zu erinnern. Sie wurde angestoßen durch die Pionierarbeit von Menschen wie der englischen Krankenschwester und Ärztin Cicely Saunders (Gründerin des St. Christopher’s Hospice als erstem modernen Hospiz, London, 1967) oder den frühen, noch nicht esoterischen Schriften der schweizerisch-US-amerikanischen Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross („On Death and Dying“, 1969; dt.: „Interviews mit Sterbenden“, 1971). Den sterbenden Menschen und seine Angehörigen nicht allein zu lassen, der gesellschaftlichen Tabuisierung von Tod und Sterben entgegenzuwirken und einer unnötigen Verlängerung des Lebens durch maschinelle Medizin ebenso zu widersprechen wie dessen Verkürzung infolge eines Rufs nach „aktiver Sterbehilfe“ (Tötung auf Verlangen) – all das gehört zu den großen Leistungen der Hospizbewegung. Neben anderen Institutionen waren und sind die Arnoldshainer Hospiztage, die dieses Jahr zum dreißigsten Mal begangen wurden, eine wichtige Größe für die Stärkung und Etablierung der Hospizbewegung in Deutschland und speziell in Hessen.

Ein wichtiger Impuls von Cicely Saunders ist es, das Leiden von sterbenden Menschen (und ihren Angehörigen) umfassend in den Blick zu nehmen („concept of total pain“): neben dem körperlichen Schmerz eben auch sein oder ihr physisches, psychisches, soziales und spirituelles Leiden (physical, psychological, social and spiritual pain). Zum geistlichen, spirituellen Leiden gehören dabei nach Saunders etwa der Zorn auf das Schicksal oder Gott, die Suche nach Sinn, der drohende Verlust des Glaubens, die Angst vor dem Unbekannten. Deshalb spielt der Glaube des Sterbenden wie derjenige der ihn begleitenden Menschen eine so große Rolle.

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Kreuz Jesu Christi. Die Erfahrungen aus der Hospizbewegung haben neu sehen gelehrt, dass es im Kreuz Jesu Christi – vor aller theologischen Interpretation – zunächst und zuallererst um einen leidenden, sterbenden Menschen geht. Zugleich ist es aufschlussreich zu fragen, was die Erzählung von dem Leiden und Sterben Jesu für die Begleitung von sterbenden Menschen heute austrägt.

Damals auf Golgatha wie heute in der Hospizbewegung sind es vor allem Frauen, die den Sterbenden begleiten: „Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobus des Kleinen und des Joses, und Salome […] und viele andere Frauen, die mit ihm hinauf nach Jerusalem gegangen waren.“ (Mk 15,40f.) Ohne irgendwelche Gender-Stereotype zu pflegen, haben sie offensichtlich eine besondere (wohl auch sozial bedingte) Kompetenz, auch dort Leiden auszuhalten, wo „nichts mehr zu machen“ ist.

Das Sterben Jesu wird in den vier Evangelien des Neuen Testaments auf markant verschiedene Weise geschildert. Das ist kein redaktionelles Versehen der biblischen Autoren oder Unachtsamkeit des Heiligen Geistes. Im Gegenteil. Es zeigt vielmehr, dass es sich hier um Erzählungen aus Glauben handelt, die gerade in ihrer Verschiedenheit und Vielschichtigkeit für sterbende Menschen heute hilfreich sein können. Es gibt kein universales Idealbild des sterbenden Christus, kein einfaches Schema, keine lineare Stufenfolge der Sterbephasen. Was es gibt, sind vielmehr ganz unterschiedliche Erfahrungen von und mit Menschen in der letzten Phase ihres Lebens.

Bei Markus und Matthäus stirbt Christus mit dem alttestamentlichen Schrei der Gottverlassenheit auf den Lippen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46) – ein Zitat von Psalm 22,2. Und es kann hilfreich sein für die Begleitung eines sterbenden Angehörigen wie für den Umgang mit dem eigenen Tod, dies zuzulassen: die eigene gefühlte Gottesferne, die Anklage, das Ringen mit der dunklen Seite Gottes. Mit dem „lieben Gott“ allein kommt man im Angesicht des Todes nicht weit. Jesus Christus stirbt in dieser Erzählung verzweifelt, klagend, ohne Gott zu spüren. Das sollte uns davor bewahren, gewisser, religiöser, rechtgläubiger sein zu wollen, als es gut ist. Es braucht Kraft, Mut und eine Tiefe der Verzweiflung, Gott so anzuklagen – und dies bei einem anderen Menschen auszuhalten. Gerade deshalb ist es wichtig, Christus hier an der Seite des Leidenden zu wissen. Der Psalm 22, der insgesamt als eine Vorlage für die Schilderung der Passion Christi dient (das Teilen bzw. Verlosen der Kleider, der Spott der Anderen, das Dürsten, das Durchbohren der Hände und Füße), ist damit noch nicht zu Ende. Am Ende wird der Beter Gott für seine Hilfe loben. Und auch nach seinem Tod wird es mit Jesus Christus weitergehen. Doch wir sollten uns davor hüten, bei uns selbst und erst recht im Umgang mit dem Leid anderer frommer sein zu wollen als Christus und den zweiten Schritt immer schon vor dem ersten zu tun.

Deutlich anders pointiert ist die Schilderung des Todes Jesu Christi bei Lukas. Auch hier stirbt Jesus am Ende mit einem Psalmwort auf den Lippen (Ps 31,5), doch diesmal als Ausdruck unbedingter Gottergebenheit: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ (Lk 23,46) Es ist ein großes Geschenk, wenn Menschen das eigene Leben, sich selbst oder auch einen geliebten Angehörigen so in Gottes Hand loslassen können. Sich selbst in Gottes Hand lassen können ist eine schöne Beschreibung für das Geheimnis des Glaubens insgesamt. Vorher wird Christus bei Lukas aber selbst noch zum „sterbenden Sterbebegleiter“ für einen der beiden Schächer, die mit ihm am Kreuz hingerichtet werden: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43) Auch im Sterben hört Jesu Hingabe an den anderen, an den Menschen neben ihm nicht auf. Und beide Sätze Jesu Christi hängen eng miteinander zusammen: die Hin-Gabe an den Nächsten und das Sich-Ergeben in die Hände Gottes. In beiden ereignet sich das eine Wunder neuen Lebens, von sich selbst lassen zu können und ganz bestimmt zu werden von der Liebeswirklichkeit Gottes als einem Dasein für andere. Dies am Ende des Lebens bei einem geliebten Menschen oder bei sich selbst erfahren zu dürfen lässt sich kaum anders beschreiben als Gnade.

Von allen Evangelien spricht Jesus am Ende seines Lebens am meisten bei Johannes. Vier Sätze sind es, die er hier am Kreuz sagt. Das hängt damit zusammen, dass bei Johannes die Erniedrigung und Erhöhung Jesu, sein Leiden und sein Überwinden in besonderer, paradoxer Weise schon immer ineinander gedacht werden. Mit seinen ersten beiden Sätzen stiftet Jesus Christus kurz vor dem Ende des irdischen Zusammenlebens mit ihm neue Gemeinschaft: „Frau, siehe, das ist dein Sohn.“ „Siehe, das ist deine Mutter.“ (Joh 19,26f.) Der Lieblingsjünger (wohl Johannes) und die Mutter (Maria) stehen dabei, so eine gängige Deutung, für das Verhältnis der johanneischen und der gesamtkirchlichen Gemeinde. Bedeutsam für die Begleitung Sterbender ist, wie hier dem „sozialen Tod“, dem drohenden Bindungsverlust der verschiedenen Angehörigen untereinander, eine neue Beziehungswirklichkeit entgegengesetzt wird. Im Tod des Sohns ereignet sich der Beginn neuer familiärer Beziehungen. Ein Gegenmodell zum klassischen „Streit der Erben“ und zu dem mit jedem Tod drohenden Zerfall der Gemeinschaft der Hinterbliebenen. Die beiden nächsten Sätze spiegeln die tiefe Spannung, die im Sterben Jesu Christi wie im Sterben vieler Menschen angelegt ist. Einerseits der tiefe, ungestillte Durst nach Leben und die Verlusterfahrung, die angesichts des Todes damit einhergeht: „Mich dürstet.“ (Joh 19,28) Andererseits die Erfahrung der Erfüllung und Befreiung von der auferlegten Lebenslast: „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30) „Gemischte Gefühle“, die höchst unterschiedlich zusammengesetzt sein können und sich in ihrem Mischverhältnis immer wieder verändern können, sind oftmals kennzeichnend für solch exzeptionelle Lebenserfahrungen, wie sie der Abschied von einem Menschen oder gar der eigene Tod darstellen.

Die höchst unterschiedlichen Erzählungen vom Sterben Jesu in den vier Evangelien: Sie folgen selbst auf verschiedene Weise alttestamentlichen Bildwelten und bieten selbst eine Hilfestellung, um mit den höchst spannungsvollen und widersprüchlichen Erfahrungen mit dem eigenen Tod und dem Sterben anderer umzugehen. Es geht in ihnen nicht um bloße „historische Tatsachenberichte“, sondern um die Anleitung zu einer „ars moriendi et comitandi“: um die Kunst, selbst getrost zu sterben, und die Kunst, andere in ihrer letzten Lebensphase mutig begleiten zu können. Dafür ist es gut, Christus an der eigenen Seite zu wissen: als Verzweifelten und Getrosten, als Gott-Verlorenen und In-Gott-Geborgenen, als Lebensdurstigen und als Vollender – und als Stifter neuer Gemeinschaft und Liebeswirklichkeit über den Tod hinaus.

Wenn es so weit ist

Wenn es so weit ist, Gott,
bei anderen oder bei mir,
dann bewahre mich
vor billigem Trost und frommen Plattitüden,
vor der Flucht in heilige Belanglosigkeit.
Schenk mir den Mut der letzten Meter,
deinem Licht wie deiner Dunkelheit nicht auszuweichen,
mit dir zu streiten,
bedingungslos
für die anderen und für mich,
wenn nötig, bis zum letzten Atemzug,
hoffend darauf,
dass du selbst dabei an meiner Seite bist. (TL)

Theologische Impulse 54, von Dr. Thorsten Latzel