Morgenerst und Morgenletzt

26.1.2020

Thorsten Latzel

Der Morgen hat es in sich. Er ist – je nachdem – die Zeit von Appell oder Andacht, Frische oder Frost, Dämmerung oder Duft, Röte ...

Der Morgen hat es in sich. Er ist – je nachdem – die Zeit von Appell oder Andacht, Frische oder Frost, Dämmerung oder Duft, Röte oder Grau, Kaffee oder Tee, Melken oder Muffeln, Liebe oder Leid, Sonne oder Stern. Entsprechend wird er von verschiedenen menschlichen Chronotypen („Eulen“ und „Lerchen“) sehr unterschiedlich erlebt.

Nach manchen Zeitvorstellungen ist er die Mitte zwischen zwei Mitten: Die Tageszeit zwischen „Mitter-Nacht“ und „Mit-Tag“. In anderen endet mit ihm die Nacht und beginnt der neue Tag: die Stunde von Sonnenaufgang und Hahnenschrei, vom Ende des nächtlichen Liebesabenteuers und Beginn der aufziehenden Schlacht. „Morgen für Morgen kommt man zur Welt.“ (Eugène Ionesco) Man rechnet zu ihm klassischerweise die drei Stunden ab der Dämmerung, dann beginnt der Vormittag. Bei Student/innen und Nachtarbeitenden entsprechend später. In wieder anderen Zeitkonzepten vollendet sich mit ihm der Tag: „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (1. Mose 1,5)

Der Morgen ist (durch die Ausstrahlung der Nacht) die kälteste Zeit des Tages – mit Tau, Reif, Frost und Nebel. Die Zeit von Katern und brummenden Köpfen wie von klaren Gedanken und druckfrischen, neuen Nachrichten, die vielen Zeitungen ihren Namen gegeben hat.

Der Morgen sind die Stunden mit besonderer Vergangenheit (der „Morgen danach“) und mit besonderer Zukunft. Eine Zeit voller Möglichkeit, Potenzialität und Offenheit, weshalb aus dem „Morgen des folgenden Tages“ die Zeitangabe „morgen“ wurde. Inbegriff für Zukunft, Frische und Jugend.

Dass die ewige „Morgenfrische“ für den Menschen auf Dauer kaum auszuhalten ist, kommt schön in einer Geschichte aus der antiken Mythologie zum Ausdruck. In ihr ist die Morgenzeit personalisiert in der Göttin Eos (lat. Aurora), Schwester des Sonnengottes Helios (lat. Sol) und der Mondgöttin Selene (lat. Luna). Sie fährt ihrem Bruder Helios voraus mit einem Gespann aus den beiden Pferden Phaeton („Schimmer“) und Lampos („Glanz“): anmutig, schön gelockt, in einem safrangelben Kleid. Eos verliebt sich in den trojanischen Prinzen Tithonos, entführt und heiratet ihn und bittet den widerstrebenden Zeus für ihn um Unsterblichkeit – vergisst aber leider, ihn zugleich um ewige Jugend zu bitten. So schrumpelt Tithonos, ewig alternd, immer weiter in sich zusammen, bis nur noch seine schrille Stimme übrig bleibt und Zeus ihn aus Mitleid in eine Zikade verwandelt, welche die Morgenröte fortan begleitet. Den Tod ihres gemeinsamen Sohnes Memnon beweint Eos dauerhaft, weswegen morgens ihre Tränen als Tau vom Himmel fallen.

In Sprichwörtern ist die Anfangszeit des Tages vielfach durch ökonomischen Wettbewerb und Arbeitsmoral vereinnahmt worden. Es geht ums Fressen und Gefressen-Werden (früher Vogel fängt Wurm), um das Wettrennen aller gegen alle im „Windhund“- oder Liegestuhl-Prinzip (wer zuerst kommt), um den Gewinn von Reichtum (Gold im Mund). Dazu passt es, dass aus der Zeiteinheit ein Flächenmaß wurde: ein Morgen als die Ackerfläche, die man je nach Zeit und Region unterschiedlich mit einem einscharigen Ochsen- oder Pferdepflug an einem Vormittag durchschnittlich pflügen konnte (etwa 2500 Quadratmeter). Zugleich diente der Morgen früher als Bezeichnung für die östliche Himmelsrichtung: dorthin, wo die Sonne aufgeht, im Orient, im Morgenland.

Für den Glauben spielt der Morgen eine besondere Rolle. In den Morgengebeten und -liedern geht es um den Dank für die bewahrte, überstandene Nacht und die Bitte um Führung wie Behütung an dem neuen Tag. Und es geht um die Kunst, trotz tagtäglicher Gewöhnung das Wunder der Schöpfung neu zu sehen: „Morning has broken like the first morning.“ Die Tatsache, dass die Sonne jeden Morgen aufgeht, macht das Wunder nicht kleiner als „am ersten Tag“, nur unser Blick für das Wunder ist sprichwörtlich vernebelt. Der Morgen ist zugleich die Zeit, an der die Frauen zum Grab aufbrechen und dem Auferstandenen begegnen. Deswegen sind christliche Kirchen in aller Regel mit dem Chorraum gen Osten ausgerichtet, von wo der Auferstandene wie die aufgehende Sonne erwartet wird. Auch in dieser Hinsicht ist der christliche Glaube zutiefst orientalisch. Ostern und Osten gehören zusammen: der Glaube als Morgenland.

Aus der Astronomie stammen die Begriffe des „Morgenerst“ und „Morgenletzt“. Sie bezeichnen den Tag, an dem ein Himmelskörper erst- oder letztmals „früher als die Sonne über dem Osthorizont aufgeht und freiäugig erkennbar ist, weil der Himmel noch nicht vom Sonnenlicht überstrahlt wird“. Dies kann ein Stern oder einer der fünf freiäugig zu erkennenden Planeten sein (in Bezug auf den Mond spricht man von „Altlicht“ oder „Neulicht“). Ein schöner Gedanke, dass es Dinge gibt, die ich nur an diesem einen, speziellen Morgen zum ersten oder zum letzten Mal sehen kann. Und dass es eine spezielle Zeit gibt, in der sie noch nicht von anderen überstrahlt oder übertönt sind.

Es gibt Vögel, die man – pünktlich wie die „Vogeluhr“ – morgens allein singen hören kann. Ganz früh vor der Dämmerung etwa Feldlerche, Garten- oder Hausrotschwanz (90–60 Minuten vorher), dann Kuckuck, Amsel oder Rotkelchen (60–45 Minuten), wenn es schon heller wird, Meisen, Zilpzalp, Stieglitz, Star oder Fink (35–5 Minuten). Zu den großen Morgenblühern gehören die Pracht- oder Prunkwinden. Im Englischen tragen sie den schönen Namen „Morning glory“. Ihre großen Blüten – bei der Japanischen Kaiserwinde etwa bis zu 30 Zentimeter Durchmesser – blühen vormittags und zerfließen im Lauf des Tages. In der kurzen Zeit ihres Blühens verändern sie fortschreitend ihre Farbe.

Deshalb ist der Morgen auch eine besondere Zeit der Rituale – geistig, körperlich, seelisch:

• um nach dem Schlaf als kleinem Bruder des Todes wieder neu in das Leben zu finden,
• um im Trott des Alltags den Blick für die Wunder und die Einzigartigkeit dieses Tages zu öffnen,
• um Raum zu schaffen für das Neue, die Abenteuer, die erhoffte Zukunft, die da kommen soll.

Es kann den Verlauf des eigenen Tages tiefgreifend verändern, wenn ich den Morgen als das begreife, was er seinem tiefsten Wesen nach ist: ein Wunder, das auch durch seine stete Wiederholung nichts von seinem faszinierenden Wesen verliert. Das Wunder, dass ich überhaupt bin und nicht „nicht bin“. Das Wunder, dass ich mit den Menschen, die mir nahe sind, auch in dieser Nacht behütet worden bin und mich nicht über Nacht (wie Gregor Samsa) in einen Käfer verwandelt habe. Das Wunder, dass es die Welt, das Leben, die Menschen um mich herum „aufs Neue“ gibt, für mich gibt.

Um dieses „Morgen-Wunder“ vor lauter Alltagsmüdigkeiten nicht zu übersehen, ist es gut, sich darin zu üben, es immer wieder wahrzunehmen. Etwa durch ein stilles Gebet, ein Segen, ein Lied. Oder auch indem ich mich frage, was ich heute an diesem Morgen zum ersten Mal oder vielleicht zum letzten Mal sehen werde: Morgenerst und Morgenletzt.

Ich wünsche Ihnen einen wundervollen guten Morgen!

Morgenerst und Morgenletzt

Die erste Blüte des Tages pflücken
Dem Vogel dieser Stunde lauschen
Den letzten Kaffee gemeinsam trinken
Die Stadt zum ersten Mal sehen
In den Zug gen Süden steigen
Den alten Terminplan zerreißen
Tau auf deiner Wange spüren
Sehen, wie im Tal sich Nebel lichtet
Staunen, lassen, empfangen
Und leben
Als wär’s ein Gebet. (TL)

Theologische Impulse 47, von Dr. Thorsten Latzel