Nenn mich nicht Bruder!

21.6.2019

Thorsten Latzel

Was für Familien-Verhältnisse! Er – ein Bankert, ein Bastard. Sein Vater will seine Mutter sitzen lassen. Seine Angehörigen halten ihn für verrückt. Er lässt sie ...

Was für Familien-Verhältnisse! Er – ein Bankert, ein Bastard. Sein Vater will seine Mutter sitzen lassen. Seine Angehörigen halten ihn für verrückt. Er lässt sie draußen vor der Tür stehen. Für ein konservatives Familien-Idyll kann man sich schwerlich auf die Evangelien berufen. Für ein sozialrevolutionäres Familien-Bashing allerdings ebenso wenig.

Am Ende, am Kreuz wird Blut dann doch dicker sein als Wasser. Als man ihm den Speer in die Seite stößt. „Siehe, das ist dein Sohn. Siehe, das ist deine Mutter“. Er ist ein familiärer Beziehungsstifter, bis zuletzt. Mit seinen Jüngerinnen und Jüngern teilt er sein kindliches Urvertrauen zu Gott: „Unser Vater im Himmel“. In der Stunde der Anfechtung, allein im Garten, wird es am intensivsten sein: „Abba, mein Vater.“ Für die anderen wird er so zum Sohn schlechthin: Davids-, Menschen-, Gottessohn. In der Sprache der späteren Tradition: der „Einziggeborene“, der zum „Erstgeborenen“ wird. „Alle Menschen werden Brüder.“ Und Schwestern. Der große Traum der Menschheit. Aber das Elysium hat hier seinen Preis. Einen Blutpreis. „Das ist mein Blut, das für viele vergossen wird.“

Markus, der älteste und archaischste Erzähler der Christus-Geschichte, ist zugleich auch der Familien-Abstinenteste von ihnen, gleichsam der Single unter den Evangelisten. Bei Markus gibt es keine Kindheitsgeschichten, kein Vaterunser, keine Mutter unterm Kreuz. Nur drei Mal kommt Jesu Familie bei ihm vor (Markus 3,20f.; 3,31-35; 6,1-6). Und immer sind sie ein Hindernis. Wie die Jünger, die ihn nie verstehen. Wie die Frommen, mit denen er permanent streitet. Dabei hängen die drei Familien-Geschichten mit dem großen Geheimnis bei Markus zusammen: dass dieser Jesus Gottes Sohn ist. Es durchzieht die Erzählung des Markus wie ein cantus firmus: von den Himmelsstimmen bei Taufe (1,11) und Verklärung (9,7) bis zum paradoxen Bekenntnis des römischen Hauptmanns unterm Kreuz (15,39). Und darin liegt die Pointe der Geschichte in Markus 3,31ff.: Jesus ist der Sohn Gottes, gerade indem er radikal als Sohn und Bruder aller lebt, die Gottes Willen tun. Er ist der Christus, weil er sich selbst nicht darauf beschränken lässt, der aus Nazareth, der Zimmermann, der Bruder von … zu sein (6,3).

Bei Familie geht es ja immer auch um die großen Fragen des Lebens: Wer bin ich und woher stamme ich? Für wen bin ich da und auf wen kann ich mich verlassen? Wohin gehe ich und was wird von mir bleiben? In der Geschichte „Von den wahren Verwandten“ gibt Jesus mit seinem Verhalten und seiner Rede darauf eine dreifache Antwort.

Er ist ein Familien-Universalist: Alle Menschen sind seine Brüder, Schwestern, Mütter, die Gottes Willen tun. Er kann sich selbst, sein Leben, sein Ziel nicht ohne die anderen verstehen.

Er ist ein Familien-Praktiker: Am Tun des Gotteswillens, an der Praxis der Liebe entscheidet sich, wer Familie ist. Jesus lebt ganz aus diesem einen, allumfassenden Beziehungsgeschehen, das wir als Liebe Gottes umschreiben.

Und er ist ein Familien-Utopist: Die familiäre Beziehung, in der sich Jesus sieht, ist nicht einfach, sondern sie wird. Sie entsteht, indem er sie den anderen zu-lebt und zu-spricht: „Ihr seid mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter“.

Nun sind die Erfahrungen mit familiären Universalisten in der Geschichte höchst ambivalent: in religiösen, politischen wie weltanschaulichen Gemeinschaften. Wenn mich einer „Bruder“ nennt, werde ich skeptisch. Gerade auch in der Kirche. Bruder, Schwester sind wir nicht, sondern wir werden es, wo wir es einander zu-leben: Wenn unser Tun radikal bestimmt wird von dem unbedingten Liebeswillen Gottes; wenn wir bereit sind, uns für den anderen zu riskieren; und wenn unser eigenes Leben so Teil von dem großen Christus-Geschehen wird. Dann und erst dann sollten wir uns als Brüder und Schwestern bezeichnen – allen inflationär-manipulativen Verschwisterungen zum Trotz. Wer Bruder sagt, muss bereit sein, für den anderen ein anderer zu werden.

Darin freilich liegt dann eine besondere ökumenische Pointe einer allzu leichten Rede von „Brüdern und Schwestern“. Geschwister sucht man sich ja nicht aus, sie widerfahren einem. Man streitet sich mit ihnen, man sorgt sich um sie, man liebt sie, man hasst sie, man wird sie nicht los. Bruder, Schwester, Mutter sind wir nicht einfach, sondern werden es – wenn der andere so Teil von mir selber wird, dass ohne sie das Woher und Wohin und Wozu meines Lebens keine Antwort finden. Geschwister sein heißt, gemeinsam woher stammen, füreinander da sein und miteinander auf dem Weg sein. Das ist riskant. Weil wir selbst dadurch andere werden. Weil es Opfer fordert. Und weil es zu notwendigen Entscheidungen führt: ob wir gleichsam der Zimmermann, der aus Nazareth, der Bruder von … bleiben wollen oder ein Gotteskind, ein Bruder von allen, bestimmt durch den einen, unbedingten Liebeswillen Gottes.

Nenn mich nicht Bruder

Nenn mich nicht Bruder,
nur weil wir denselben Namen tragen,
zufällig die gleiche Meinung haben
zu Gott, Geld, Welt und politischen Fragen.

Nenn mich Bruder,
wenn wir zusammen aus Christus leben,
Liebe tun, nach Gerechtigkeit streben,
und für einander ein anderer werden. (TL)

Theologische Impulse 24, von Dr. Thorsten Latzel