Sieben Todsünden der modernen Welt. Im Gespräch mit Mahatma Gandhi

1.3.2019

Thorsten Latzel

Die „Sieben Todsünden der modernen Welt“ nach Mahatma Gandhi: • Pleasure without conscience – Genuss ohne Gewissen • Knowledge without character – Wissen ohne Charakter • Politics without ...

Die „Sieben Todsünden der modernen Welt“ nach Mahatma Gandhi:
• Pleasure without conscience – Genuss ohne Gewissen
• Knowledge without character – Wissen ohne Charakter
• Politics without principle – Politik ohne Prinzipien
• Commerce without morality – Geschäft ohne Moral
• Wealth without work – Reichtum ohne Arbeit
• Science without humanity – Wissenschaft ohne Menschlichkeit
• Worship without sacrifice – Religion ohne Opferbereitschaft

Zivilisationskritik – grundlegend, prinzipiell und radikal – ist zurzeit en vogue. Schon ein kurzer Gang durch die Auslage einer beliebigen Buchhandlung spricht hier Bände: Es fängt an mit der Art, wie wir denken: Langsames Denken (Daniel Kahnemann),
die Kunst des Klugen Denkens (Rolf Dobelli),
Selber Denken (Harald Welzer).
Es geht über die Frage, wie wir leben, essen, konsumieren – und uns selbst und die Schöpfung dabei erschöpfen: „Anständig essen“ (Karen Duve),
„Leben als Konsum“ (Zygmunt Baumann),
die „Müdigkeitsgesellschaft“ (Byung Chul-Han).

Bis hin zur grundlegenden Infragestellung der Systeme: die „Entscheidung“ Kapitalismus versus Klima (Naomi Klein). Um es mit dem Protagonisten aus den Känguru-Chroniken zu sagen: „Nutzen Sie das Klima der allgemeinen Angst, schreiben Sie einen Lebensberater oder ein Krisenbuch.“ Es knirscht in den tragenden Balken unserer Gesellschaft. Ein weit verbreitetes Grundgefühl, das auch in vielen Veranstaltungen der Evangelischen Akademien begegnet: „dass es irgendwie nicht stimmt.“

Der eingangs zitierte Text von Mahatma Gandhi wurde vor fast 100 Jahren, im Oktober 1925 erstmals in der Zeitschrift „Young Idia“ veröffentlicht. Er ist gleichsam so etwas wie ein Urdokument der Zivilisationskritik am Anfang der Moderne. Das Unbehagen an der Moderne ist so alt wie sie selbst. Der Text öffnete einen hilfreichen, anderen Blick auf aktuelle Herausforderungen der Gesellschaft.

Interessant an ihm ist zunächst, dass er direkt und ungehemmt von „Sünde“ redet: „seven social sins“ – so der Originaltitel. Heute steht der Begriff der Sünde eher auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten theologischen Begriffe, relativ weit oben. Zumindest was den kirchlichen Sprachgebrauch betrifft. In kirchlichen Verlautbarungen muss man lange nach ihm suchen, wenn man ihn überhaupt findet. Zu moralisch, zu verbraucht, zu viel schlechtes Gewissen. Er ist abgewandert in den Bereich von Sexualität (rote Strapse), von Ästhetik (rote Stricksocke) und der Ernährung (rote Wurst). Was Schade ist, weil damit leicht auch eine genuine theologische Perspektive verlorengeht.

Gandhis These ist es, dass die Probleme unserer Zivilisation etwas mit Religion zu tun, damit woran wir glauben: mit unserem Bild von Gott, vom Menschen, vom Leben, von der Welt. Mit dem, woran unser Herz hängt. Eine existentielle Tiefendimension. Aufschlussreich ist dabei, wie Gandhi die alte katholische Lehre von den sieben Todsünden aufnimmt. Der Lasterkatalog der sieben klassischen Todsünden beschrieb individuelle Triebe und Eigenschaften: Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Zorn, Völlerei, Faulheit. Gandhi überträgt dies in den Bereich des sozialen Lebens, er entgrenzt es und kehrt die Wertung um: Sünde ist potentiell alle Arbeit, Wissen, Religion, Politik – im Grunde alle Felder menschlichen Zusammenlebens. Es geht um das, was man heute strukturelle und kulturelle Sünde nennt. Und das Wesen der Sünde beschreibt er dabei als eine „Ohne-Relation“. Die sozial differenzierte, segmentäre Gesellschaft wird in ihren jeweiligen Bereichen – Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Recht – zur Sünde, wenn sich diese von ihrer spezifischen Teilaufgabe lösen. Und die Teilsysteme werden es vor allem dann, wenn sie den Bezug zum Menschen verlieren.

Die zweite Begriffsreihe bewegt sich gegenüber der ersten stärker auf der individuellen Ebene: Gewissen, Charakter, Prinzipien, Moral. Sünde ist eine strukturelle, kulturelle Größe – und sie hängt an dem, was der einzelne Mensch tut. An seiner Moral, seinem Charakter, seiner Arbeit, seinem Gewissen, seinen Prinzipien, seiner Opferbereitschaft, seiner Menschlichkeit. Diese Verschränkung von Sozialität und Individualität, von Strukturen und konkreter persönlicher Verantwortung ist wichtig. Sie steht einer verharmlosenden Privatisierung der Sün-de ebenso entgegen wie der selbstgerechten Haltung von steine-werfenden Weltverbesserern, die immer nur das System und nicht den einzelnen Menschen im Blick haben. Oder um es mit dem Gießener Philosophen Odo Marquard zu sagen: Es ist immer leichter für andere Gewissen zu sein als selbst Gewissen zu haben.

Die „seven social sins“ nach Gandhi sind so eine im positivem Sinne anstößige Zivilisationskritik. Ihr Defizit liegt m.E. darin, dass sie allerdings die Tiefe dessen, worum es religiös in der Sünde geht, noch nicht erreichen. Das zeigt sich in der Reihe der positiven Begriffe wie Moral, Prinzipien, Charakter, mit denen sich der Sünde nicht begegnen lässt. Vielmehr sind sie selbst Teil ihrer Wirksphäre. Das Problem des religiösen Extremismus ist sicher nicht der Mangel an Opferbereitschaft. Auch Politikern wie Erdogan oder Putin mangelt es sicher nicht an Prinzipien, zweifelhaft ist nur, ob es die richtigen sind. Und die ethische Ambivalenz von Genforschung oder Nanotechnologie lässt sich nicht einfach durch den Verweis auf Menschlichkeit beantworten.

Auch dies gehört zu den Einsichten, welche die Rede von der Sünde in die Frage gegenwärtiger Zivilisationskritik eintragen könnte: das nämlich das Gesetz – und dazu gehören Begriffe wie Moral, Charakter, Prinzipien, Opferbereitschaft – die Sünde in ihren Auswirkungen zwar begrenzen, zügeln, eindämmen kann. Dass es aber auch selbst durch die Sünde verkehrt werden kann. Und dass das Gesetz vor allem niemals von der Sünde befreien kann.

Dazu bedarf es eines anderen, freisprechenden Wortes, des Evangeliums.

Womit wir bei der Frage wären, welche Worte wir hier einsetzen würden. Die drei Geistesgaben nach Paulus – Glaube, Liebe, Hoffnung? Die vier Kardinaltugenden von Plato Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung – als Ordnungsprinzip des Einzelnen wie der Gesellschaft? Oder die unbedingte Liebe Gottes wie bei Augustin: „Liebe und tue, was du willst“ (Ama et quod vis fac)? Aber das wäre Thema eines anderen Impulses.

Mit den sieben Todsünden nach Gandhi habe ich begonnen. Mit den zehn bevorzugten Worten nach Albert Camus möchte ich schließen. Auch wenn Camus als existenzialistischer Philosoph diese Worte niemals mit Glauben oder Gott in Verbindung gebracht hätte, drückt sich in ihnen etwas von der Höhe, Weite und Tiefe des Lebens aus, um dies es im Leben und im Glauben. In seinem Tagebuch schreibt er im Jahr 1951:

„Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Wörtern:
‚Die Welt, der Schmerz, die Erde,
die Mutter, die Menschen, die Wüste,
die Ehre, das Elend,
der Sommer, das Meer‘.“

Theologische Impulse 8, von Dr. Thorsten Latzel