Trotzdem! Von der geistlichen Kraft zum Widerstand in einer verrückten Welt

11.1.2019

Thorsten Latzel

Es sind drei Fragen, die mich zurzeit beschäftigen. Drei Fragen, die in besonderer Weise zusammenhängen: Was hilft uns als Gesellschaft, mit „Krisen“ umzugehen, den vermeintlichen wie ...

Es sind drei Fragen, die mich zurzeit beschäftigen. Drei Fragen, die in besonderer Weise zusammenhängen:

  1. Was hilft uns als Gesellschaft, mit „Krisen“ umzugehen, den vermeintlichen wie den wirklichen?
  2. Was gibt mir (und anderen Menschen) die innere Kraft zu widerstehen?
  3. Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert protestantisch an Gott zu glauben?

Zunächst zu den Krisen: „Krise“ gehört zu den Grundbegriffen des kollektiven Zeitgefühls wie der medialen Selbstbeschreibung am Anfang des 21. Jahrhunderts: Flüchtlinge, Banken, Euro(pa), Terror, Klima – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Zur „Krisenbewältigung“ gehört dann jeweils ein festes Repertoire der Berichterstattung, das von einer übersensiblen, erlebnisorientierten Gesellschaft entsprechend aufgenommen wird. Beide zusammengenommen tragen zu dem unguten Hamlet’schen Gefühl bei, dass die Welt aus den Fugen, im eigentlichen Sinne „ver-rückt“ ist. Und dass es allein an mir (oder im kollektiven Narzissmus an uns) liegt, sie wieder einzurenken. Aus kritischen Situationen wird so erst die Krise, dann eine „Krisen-Kultur“, am Ende die unvermeidliche Katastrophe.

Nun kann man weder die genannten realen Herausforderungen einfach auf ein Wahrnehmungsproblem reduzieren. Noch lässt sich der schwarze Krisen-Peter einfach den Medien (oder der Politik oder „denen da oben“) zuschieben. Kritisch ist jedoch der „Krisen-Hype“, mit dem gegenwärtig auf schwierige Situationen reagiert wird. Zu seinen Kennzeichen gehört, dass eine aktuelle Herausforderung stets als Höhe-/Wendepunkt einer dramatischen Entwicklung begriffen wird. Damit geht emotional ein Bedrohungsgefühl einher, kognitiv ein Informationsdefizit, prozessual ein besonderer Handlungsdruck. Der Alltag ist unterbrochen, die Wahrnehmung kanalisiert (Tunnelblick), es herrscht Zeitdruck („fünf vor zwölf“). Das alles trägt aber gerade nicht zu einem klugen Krisenmanagement bei. Es wäre daher klug, kritischer mit dem Krisen-Begriff zu sein.

Die Frage ist, wie wir uns als Gesellschaft vor solch einer aktualistischen „Krisen-Hysterie“ bewahren und zugleich mit den eigentlichen, tiefergehenden Problemen umgehen, den massiven Herausforderungen jenseits der aktuellen Schlagzeilen: Was hilft uns, so zu denken, leben, handeln, dass lebenswertes Leben für alle Menschen auf der Erde dauerhaft möglich ist? Was hilft uns, die Abhängigkeit von „falschen Pfaden“ zu überwinden? Was verhilft uns zu einer nachhaltigen, gerechten, friedvollen Lebensweise?

Womit wir bei der zweiten Frage wären: Dass wir als Gesellschaft mit „Krisen“ umgehen können, hängt wesentlich zusammen mit der kollektiven wie individuellen Fähigkeit von Menschen zu widerstehen. Widerständig zu sein gegen eine Art zu denken, zu leben, zu handeln, die nur auf Kosten von anderen funktioniert (seien es Menschen, Tiere, Umwelt oder künftige Generationen). Widerständig zu sein gegen eine mediale Dauerberauschung und eine interessengeleitete Freizeitindustrie, die zur Selbstverzettelung führen und von den eigentlich wichtigen Dingen ablenken. Widerständig zu sein aber auch gegen angstgeleitete Untergangsszenarien („Krise“ in Permanenz), die die entsprechenden populistischen Vereinfacher und Schwarz-Weiß-Denker hervorruft (politisch wie religiös).

Es ist wichtig, sich nicht davon bestimmen zu lassen. Es ist wichtig, innerlich wie äußerlich widerständig – resilient – zu leben. Dabei geht es letztlich um meine, unsere eigene Freiheit.

Bei allen strukturellen Zusammenhängen und systemischen Zwängen sind es am Ende Menschen, die so oder anders handeln, die sich so oder anders entscheiden, die so oder anders leben. Damit wird nicht individualistischen Zuschreibungsformen das Wort geredet, die den Einzelnen für alles in seinem Leben, in der Gesellschaft, in der Welt verantwortlich machen. Der Satz „Jeder ist seines Glückes Schmied“, ist sozioökonomisch schlicht verkehrt, wenn nicht geradezu sozialdarwinistisch und zynisch.

Aber es wäre eben genauso falsch, den Einzelnen nur zum Produkt seiner sozialen Herkunft, seiner ökonomischen Verhältnisse, seiner genetischen Prägungen, seiner psychischen Triebe, seiner äußeren wie inneren Einflussfaktoren zu machen. So richtig diese Einflüsse sind, so wenig vermögen sie den Menschen, seine Freiheit, seine Verantwortung, seine Unverfügbarkeit zu beschreiben. Wir sind als Menschen, die lieben und hassen, spielen und kämpfen, zärtlich und grausam sind, trösten und töten, viel zu komplex, als dass wir mit reduktionistischen Theorien erfasst werden könnten. Die Frage ist vielmehr, was mir die Freiheit gibt, so oder anders mit den verschiedenartigen Einflüssen auf mich umzugehen. Denn es ist nicht egal, was ich tue. Es kommt darauf an, wie ich mich verhalte. Der einzige Mensch, den ich auf dieser Welt wirklich verändern kann, bin ich selbst. Und ich sollte so leben, dass ich selbst die Veränderung bin, die ich in der Welt sehen möchte. Wenn dem so ist: Was gibt mir die innere Kraft zu widerstehen? Was ist der tiefe, tragende Grund, der mich davor bewahrt, nicht zu resignieren, zynisch zu werden oder einfach ignorant dahinzuleben, auch wenn es noch so triftige Argumente dafür geben mag?

Womit wir bei der dritten Frage sind: Bei der inneren Kraft zum Widerstand geht es letztlich darum, woran ich eigentlich glaube. Die Stelle Gottes bleibt nicht leer im eigenen Leben. Der Psychoanalytiker Viktor E. Frankl hat es so beschrieben: „Gott ist der Partner unserer intimsten Selbstgespräche“, das Gegenüber, das die „letzte Ehrlichkeit“ hervorbringt. Anders als bei Frankl halte ich es aber nicht für operational indifferent, ob Gott existiert oder nur ein anderer Begriff für mein Selbst ist. Es macht einen Unterschied, ob mein Selbst mit sich alleine bleibt oder in seinem Innersten bezogen ist auf die Wirklichkeit einer allumfassenden, allversöhnenden, schöpferischen Liebe Gottes. Für mich selbst gewinnt dabei der Begriff eines „protestantisch an Gott glauben“ immer mehr an Bedeutung. „Protestantisch“ ist hier nicht konfessionalistisch gemeint, sondern im Sinne einer widerständigen, inneren Freiheit des Glaubenden. Das Sinnbild schlechthin dafür ist Christus am Kreuz. Ein Mensch, der – allen Anfechtungen zum Trotz – an dem Glauben an der allumfassenden, allversöhnenden, schöpferischen Liebe Gottes festhält. Ein Mensch, der für andere bis an den letzten Ort der Gottverlassenheit geht. Und der so – allem Anschein zum Trotz – selbst für andere zum wahren, weil mitleidenden Menschen und wahren, weil mitleidenden Gott wird.

Glauben heißt für mich, dass mein Leben in dieser Weise von der Liebeswirklichkeit Gottes bestimmt wird. Ja, dass ich selbst zu einem Teil dieser allumfassenden Liebeswirklichkeit werde. In der festen Hoffnung, dass am Ende Gott einmal sein wird alles in allem (1 Kor 15,28). Ein Leben im Licht dieser widerständigen Liebe Gottes bedeutet eine große innere Freiheit. Und es bedeutet zugleich einen Widerstand zu vielen Regeln dieser Welt.

Gerade angesichts der „Krisen“ unserer Zeit und angesichts der offensichtlichen Notwendigkeit, dass ich lebe, denke, handle, ist es notwendig, dass wir Gott und Glauben als letzten Grund des eigenen Widerstands neu ins Spiel bringen. Darum soll es beim Schwerpunktthema der Akademie in diesem Halbjahr gehen: „Trotzdem!“

In diesem Sinne: Trotzdem!

  • Und wenn tausendmal „alle es tun“ und „die Welt nun einmal so ist“, lebe aus der inneren Freiheit des Glaubens heraus, die sich davon nicht bestimmen lässt.
  • Obwohl Hass und Gewalt grausame Wirklichkeiten sind, sei gewiss, dass sie am Ende der Macht der Liebe weichen müssen.
  • Finde dich nicht ab mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt. Die Kraft zum Widerstand gehört zu den protestantischen Ur-Genen deines Glaubens.
  • Du bist „abgrundtief geliebt“, egal was ist, war oder sein wird. Das bestimme, wie du mit dir selbst umgehst, mit deinen Mitmenschen, mit deinen Mitgeschöpfen. Sie sind es auch.
  • Auch wenn mit dem Tod „alles aus“ ist, vertraue darauf, dass Gottes Wege mit uns damit nicht zu Ende sind.
  • Zum Wesen der Hoffnung gehört, dass sie nicht sieht und doch glaubt. Darum hoffe wider allen Augenschein. Und singe in der Nacht vom Morgen des neuen Tages.
  • Am Ende wird Gott einmal alles in allem sein, die Aufhebung aller Gegensätze, das Ende aller Feindschaft. Möge dein Leben im Licht dieser ewigen Liebe Gottes, wenn auch sicher nicht einfacher, so doch tiefer, weiter und schöner werden.

Theologische Impulse 1, von Dr. Thorsten Latzel