Von blinder Wut, heiligem Zorn und politischer Empörung Zum Umgang mit Emotionen in Politik und Religion

1.2.2019

Thorsten Latzel

Fast täglich sehen wir sie in den Nachrichten: Menschen, die vor Wut geifern, brüllen, randalieren. „Merkel muss weg!“ Man spricht von Wut-Bürgern oder Angst-Gesellschaft, früher ...

Fast täglich sehen wir sie in den Nachrichten: Menschen, die vor Wut geifern, brüllen, randalieren. „Merkel muss weg!“ Man spricht von Wut-Bürgern oder Angst-Gesellschaft, früher oft als „furor teutonicus“ bzw. „German Angst“ beschrieben. Dabei ist beides längst keine deutsche Spezialität. Ob gewalttätige Gelbwesten in Frankreich, verbitterte Trump-Fanatiker in den USA oder Pegida-Demonstranten in Deutschland: Wut ist international an der Tagesordnung.

Doch was unterscheidet „blinde Wut“ eigentlich von der notwendigen politischen Empörung, wie sie etwa der Résistance-Kämpfer und Diplomat Stéphane Hessel forderte (Empört Euch!, 2010)? Wie soll man politisch mit Wut oder Empörung umgehen? Und was können Religion und Glauben dazu beitragen – die ihren eigenen „(un-)heiligen Zorn“ kennen? Etwa wenn der eifernde Jesus die Händler aus dem Tempel treibt (Joh 2,13ff.), Saulus gegen die Anhänger des neuen Weges wütet (Apg 9,1) oder der rasende König Saul wahlweise David oder seinen eigenen Sohn Jonathan mit dem Speer zu durchbohren sucht (1 Sam 18-20)? Es ist an der Zeit, über unseren Umgang mit starken Gefühlen in Politik wie in Religion neu nachzudenken.

Emotionen gelten unter gebildeten Erwachsenen vielfach als suspekt. Zumindest wenn es um Wut, Zorn und Ärger geht: Sie sind blind, zufällig, unbeherrscht. Eine Sache von Cholerikern, Chaoten und kleinen Kindern. Oder von schlechten Verlierern, die ihren Tennisschläger zertrümmern. Anders dagegen die Emotionsforschung: Sie betont die Bedeutung von Gefühlen, weil sie ein fester Bestandteil unseres menschlichen Wesens sind, uns als Ganzes betreffen (einschließlich des Körpers) und tiefer reichen als viele unserer rationalen Ideen, Werte oder Moralvorstellungen. Entsprechend hat auch die Praktische Theologie in einer ihrer zahlreichen „turns“, diesmal dem „emotional turn“, die theologische Bedeutung von Scham, Ärger und Wut neu entdeckt.

Vier Impulse:

  1. Eigene Emotionen wahrnehmen:

„In der Welt habt ihr Angst“ (Joh 16,33). Das gilt auch für „dunkle“ Gefühle wie Wut, Ärger, Zorn. Ja selbst für Rache, Zerstörungslust, Tötungsfantasien. Und es ist wichtig, sich das einzugestehen. Emotional komplex, schwierig und zuweilen „gefühls-blöd“ sind eben nicht nur die anderen. Auch hassen, streiten und selbst töten haben, biblisch gesprochen, „seine Zeit“ (Pred 3,1–8). Und es ist nicht gut, dass wir aus lauter frommer Harmonie-Seligkeit die Feindklagen in den Psalmen aus unseren Gottesdiensten immer herausredigieren. Es gibt den Zorn-Hansel, Wut-Bürger und Populisten eben auch in mir. Ganz alltäglich, wenn der doofe Drucker wieder streikt, kurz vor dem Meeting alle Ampeln auf Rot stehen oder ich bei Vodafone in der Telefonschleife hänge (15 Minuten „Why So Serious“). Erst recht, wenn ich persönliche oder soziale Ungerechtigkeit in ganz anderer Qualität erfahre, à la Michael Kohlhaas oder Günter Wallraff. Dann hat es sich mit der hochgelobten Selbst-Wirksamkeits-Erfahrung in der ach so mobil-flüssigen Moderne! Wut ist ein Staugefühl. Wenn mein Ärger und mein Zorn keine Luft bekommen. Und es ist per se weder gut noch schlecht.

  1. Eigene Emotionen verändern:

Von Viktor E. Frankl stammt der schöne Satz: „Man muss sich von seiner Angst ja nicht alles gefallen lassen.“ Das gilt auch für die eigene Wut. Nein, Emotionen sind nicht einfach irrational, erratisch, unveränderbar. Sie haben ihre eigene Logik. Sie lassen sich gestalten. Und ich sollte mich selbst nicht zum Objekt von ihnen machen lassen, sondern sie meinerseits gestalten. Das ist allerdings oft leichter gesagt als getan, wie der gut gemeinte Ratschlag Gottes an den ersten Wut-Menschen Kain kurz vor dem Brudermord zeigt: „Die Sünde lauert vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (1. Mose 4, 7) Die Frage ist eben, warum ich wie auf wen wütend bin – und, ob ich damit richtigliege. Vielleicht wäre es ja besser gewesen, Kain hätte sich in seiner Wut, Enttäuschung, Scham mit Gott und nicht mit Abel angelegt.

Politisch gewendet: Wenn ich in der Zeitung lese, dass Städte in Deutschland nicht wissen, wie sie mit Obdachlosen-Camps umgehen sollen, ein Hedgefonds-Chef sich eine Wohnung für 238 Millionen US-Dollar in New York kauft (SZ vom 26./27. Januar 2019, beides auf derselben Seite, S. 10) und Politiker/innen wie Wirtschaftsführer/innen „Ratlos in Davos“ (Titelschlagzeile) sind, weil sie nicht wissen, wie sich Ungleichheit beseitigen lässt, dann gibt es allerdings Grund, wütend zu sein. Vielleicht sollte man einfach mal ernsthaft mit den Kritiker/innen sprechen, die da draußen demonstrieren. In der Akademie nennen wir so etwas offenen Diskurs. Normal ist das nicht und darf es nicht sein. Und es verwundert eher, wenn sich immer noch so wenige über so etwas zu Recht aufregen.

  1. In kluge Taten umsetzen:

Die Leitfrage eines Freundes bei Gesprächen in größerer Runde lautet: „Was empört dich eigentlich?“ Wutlos zu sein ist weder normal noch selbstverständlich. Zumindest nicht, wenn die Welt so ist, wie sie ist. Ich persönlich halte viel von Selbstbeherrschung und kritischer Vernunft. Aber unsere demokratische, offene Gesellschaft braucht aufgeklärte Leidenschaft. Und der Glaube kann dazu helfen, indem er meine mitunter kleinkarierte, selbstbezogene, fehlgeleitete Wut in den Horizont der Ewigkeit Gottes stellt. Und so – hoffentlich – heilsam transformiert in wahrhafte, kluge und notwendige Empörung. Es ist empörend, wenn Kinder nicht nur in Deutschland, aber eben auch bei uns arm sein müssen; wenn es eine der größten Armutsfallen ist, alleinerziehend zu sein. Es ist empörend, wenn unsere Gesellschaft sozial auseinanderdriftet, das politische Klima bewusst vergiftet wird und wir allzu oft, allzu lang und allzu schief über die falschen Themen reden. Es ist empörend, wenn wir es trotz immer neuer Technik nicht hinbekommen, in einer Weise zu leben, die lebenswertes Leben für alle Menschen und Tiere auf der Erde dauerhaft ermöglicht.

Und damit die Empörung nicht zu frustrierter Resignation oder gewaltsamer Aggression wird, ist es wichtig etwas zu tun: zu reden, zu handeln und zu beten.

Zu reden, weil es „mehrere braucht, um intelligent zu sein“ (Zwingli). Dafür haben wir die Demokratie. Sie lebt von klugen Beratungen und offenen Begegnungen. Und dafür sollten wir sie auch nutzen.

Zu handeln, weil die Trägheit der Masse und die Normativität des Faktischen gefährlich werden, wenn die Richtung des eingeschlagenen Pfades nicht mehr stimmt. Dann braucht es Mut zum kreativen Anderssein: „Tut um Gottes willen etwas Tapferes!“ (Zwingli)

Und zu beten, weil es am Ende des Tages auch mit all unserer Kraft niemals wirklich reichen wird. Und weil immer die Gefahr besteht, dass doch Wut, Ignoranz oder Zynismus das eigene Denken am Ende bestimmen. Deswegen braucht es den „Verkehr des Herzens mit Gott“ (Zwingli), das Gegenüber in den stillen Momenten „letzter Ehrlichkeit“, den „Partner unserer intimsten Selbstgespräche“ (Frankl).

  1. Fremde Emotionen besser verstehen:

Noch einmal zurück zu den vor Wut brüllenden, geifernden, randalierenden Menschen vom Anfang. Sich mit den eigenen Emotionen auseinanderzusetzen, kann helfen, die Gefühle der anderen – zumindest ansatzweise – zu verstehen. Das heißt nicht, sie zu rechtfertigen oder zu teilen. Schon gar nicht, wenn es um schlichte Ausbrüche von Gewalt und Menschenverachtung geht. Eine Gefahr in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung ist aber, dass ein emotionales „othering“ entsteht: Ich löse meine eigenen, inneren Ambivalenzen auf und nehme meine dunklen Regungen nur personifiziert in dem oder der anderen wahr. Eine solche „Fremdzuschreibung“ ist hochproblematisch und verhindert echte Begegnungen und Gespräche. Das Wertvolle wie Riskante an echten Begegnungen und Gesprächen ist ja, dass ich mich selbst darin verändern und mein Gegenüber (zumindest in Punkten) recht haben könnte. Die notwendige politische Empörung darf (im Unterschied zur blinden Wut) gerade nicht zu einem Abbruch von Begegnung führen. Im Gegenteil. Dabei gibt es klare rote Linien, worüber nicht zu diskutieren ist, etwa, wenn es um jedwede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geht (in Bezug auf Religion, Ethnie, Geschlecht …). Diesseits dieser Grenzen halte ich die kritisch-kontroverse Begegnung mit wütenden Bürger/innen und Sympathisant/innen von rechtspopulistischen Parteien aber für umso wichtiger. Gerade dann, wenn es um offensichtlich fehlgeleitete politische Emotionen geht. Das Problematische am Populismus ist, dass er seinem Wesen nach anti-pluralistisch ist (Jan-Werner Müller), dass der Ruf „Wir sind das Volk!“ eigentlich meint „Nur wir sind das Volk!“ Dem gilt es, in Begegnungen jenseits der Blasen entgegenzutreten. Das verändert. Sicher ist das Bemühen, blinde, fehlgeleitete Wut in notwendige, berechtigte Empörung zu verwandeln, anstrengend und schwierig. Aber es ist eine der zentralen Aufgaben angesichts der großen politischen Herausforderungen unserer Zeit.

Theologische Impulse 4, von Dr. Thorsten Latzel