„Von der Freiheit, frei zu sein“. Die Passion als Anti-Western

19.4.2019

Thorsten Latzel

Die Passion als Anti-Western Ein Mann reitet in eine Stadt. Das ist der klassische Beginn eines Westerns. Der einsame Reiter, der skrupellose Bösewicht, zwischen ihnen die ...

Die Passion als Anti-Western

Ein Mann reitet in eine Stadt. Das ist der klassische Beginn eines Westerns. Der einsame Reiter, der skrupellose Bösewicht, zwischen ihnen die schöne Frau. Streit im Saloon, der Ritt durch die Wüste, am Ende der Show-Down -draußen vor der Stadt. Es ist die Verheißung, dass einmal einer kommen wird: Einer, der das Gute wieder zu seinem Recht bringen wird und der das Recht wieder gut macht. Ein einsamer Reiter als Rächer der Witwen, Waisen und Unterdrückten. Einer, der den Bösen ein für alle Mal ein Ende machen wird.

Ein Mann reitet in eine Stadt. Das ist zugleich der Beginn der Karwoche, die wir an Palmsonntag begehen. Und wie im Western kommt es hier auf die kleinen Zeichen am Anfang an. In ihnen spiegelt sich bereits der weitere Gang der Dinge: Die Palmzweige und Kleider auf der Straße. Die jubelnde Menge. Und der Esel, vor allem der Esel. Messianische Fallhöhe und Brechung in einem: es ist klar, dass das nicht gut ausgehen wird.

Auch sein Kommen ist die Erfüllung einer alten Verheißung: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers. Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ (Matt 21,5)

Doch der, der da kommt, ist das Gegenbild des klassischen Helden. Dieser Sohn Davids wird die verhassten Römer nicht aus dem Land treiben. Als politischer Retter Israels ist er ein Flop. Er wird das heilige Jerusalem nicht zu neuem Glanz führen. Im Tempel wird er ein paar Tische umwerfen, ja.
Aber die Legionen seines Vaters bleiben im Himmel. Und das Schwert seiner Jünger in der Scheide.

Es ist ein sanftmütiger König, eselsförmig. Am Ende wird er am Kreuz sterben, und der Mörder wird freigelassen. Elend, verlassen, verflucht – stirbt er draußen vor der Stadt. Die Passion als Anti-Western. Die Revolution vertagt?

Die Freiheit, frei zu sein

Im Jahr 2018 erschien posthum der Essay von Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Ein kleines Bändchen von hoher aktueller Bedeutung. In ihm beschäftigt sich die Philosophin Arendt mit dem, was sich in vielen Ländern und gesellschaftlichen Bereichen gegenwärtig ereignet: Revolution.

Revolutionen im Sinne radikaler Umbrüche politischer Verhältnisse, die sich rasch vollziehen und oft mit Gewalt einhergehen, gibt es schon lange. Und sie jähren sich im letzten Jahr zu Hauf: 1848, 1918, 1968. Zudem 200 Jahre Karl Marx. Unser heutiges Verständnis von Revolution ist allerdings ziemlich jung.
Der Begriff wurde erst im 15. Jh. eingeführt – zunächst schlicht als astronomischer Fachbegriff für den Umlauf der Himmelskörper. Selbst die großen Revolutionen, die Glorious Revolution und die Französische Revolution, wurden in ihren Anfängen entsprechend nur als Restauration verstanden: als re-volvere, als ein „Zurückwälzen“, das Wieder-Herstellen eines ursprünglichen status quos.

Erst im Zuge der französischen Revolution entstand dann ein anderes Verständnis, dass es um die Entstehung einer ganz neuen politischen Ordnung geht. Und darin zugleich um die Gewinnung einer neuen Form der Freiheit: um die Freiheit, frei zu sein. Revolution in diesem Sinn zielt auf mehr als auf eine Befreiung von Ketten und auf die Ausweitung von Bürgerrechten auf einen breiteren Kreis. Es geht in ihr um die tiefe Freiheit der Menschen, als politische Wesen die Spielregeln der Demokratie selbst gestalten zu können. Und um die Freiheit ein individuelles, selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Politische Autonomie des Volkes einerseits und wirkliche Privatsphäre des Einzelnen andererseits.

Revolution des Himmels

Die Freiheit frei zu sein. Das ist der Zielpunkt der Revolution. Der politischen Revolutionen der Neuzeit auf den Straßen – und der religiösen Revolution des Himmels damals in Jerusalem. Mit Matthäus gesprochen: um die neue universale Herrschaft des auferstandenen Gekreuzigten (Matt 28,18-20). In ihr sind das „Gesetz“ und die alten Verheißungen der „Propheten“ in revolutionärer Weise erfüllt sind.

Deswegen musste der Eselsreiter damals scheitern. Deswegen durfte er die Bösen nicht töten, weil es das Böse zu überwinden galt. Deswegen braucht es einen, der sich selbst als Opfer hingibt, um die Logik von Opfer, Rache und Gewalt ein für alle Mal zu durchbrechen. Paradox gesprochen: Christus revolutionierte den Himmel, indem er Gesetz und Propheten erfüllte. Er „re-volvierte“ sie, d.h. wälzte sie zurück in ihre eigentlichen Bestimmungen. Und genau daraus ereignete sich das Neue: die „bessere Gerechtigkeit“ (Matt. 5,20).

Der Eselsreiter

Der Esel gilt erst in der Neuzeit als sprichwörtliches Symbol für Sturheit und Dummheit. Zugleich wird er aber auch als „Denker unter den Tieren“ angesehen, etwa als revolutionärer Anstifter bei den Bremer Stadtmusikanten („Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“) oder als mürrisch-beobachtender Intellektueller in George Orwells Animal farm (1945). In der Bibel galt er als normales Reittier von Reichen und Kriegern. Er nimmt zugleich eine Sonderstellung ein, weil er als einziges Tier (neben der Schlange) zum Menschen spricht und nur seine Erstgeburt (wie beim Menschen) nicht geopfert, sondern durch ein Opfer ausgelöst wird (Num 22,28, Ex. 34,20).

Im Blick auf das Leben Jesu verbindet sich mit ihm eine Brücke von Advent (Stall) und Passion (Einzug). Es ist Zeichen der Herrschaft und der Demut zugleich: Als Eselsreiter ist Jesus Herr als Knecht und religiöser Revolutionär als Schrifterfüller in einem. Der Esel das Symbol des christologischen Understatements par excellence.

Esel und Drache

Der Offenbacher Hochschullehrer und Konzeptkünstler Manfred Stumpf hat sich in seinem zeichnerischen Lebenswerk ganz auf das Motiv des Einzugs Jesu konzentriert. Variationen seiner immer wieder neuen künstlerischen Auseinandersetzung mit der Geschichte sind u.a. auf dem Wandfries (Mosaik) an der U-Bahnhaltestelle Habsburgerallee, Frankfurt am Main zu sehen (vgl. www.manfredstumpf.de). Interessant ist dabei die zeichnerische Reduktion auf die archetypischen Grundelemente der Geschichte: die Spannung von Natur (Palmzweig) und Kultur (Stadt), von Mensch und Tier, die Situation des Übergangs (Tor). Die Christus-Geschichte öffnet sich so zu einer Geschichte der Entwicklung des Menschen.

Stumpf entwickelt in seinem Werk zudem eine Parallele zum Motiv des Heiligen Georgs als Drachentöter. Die Figur des Antihelden wird hier jedoch wieder heroisiert (von Christus zum Ritter), an die Stelle des Esels tritt das Schlachtross, das Böse als Drache animalisch personifiziert.

Georg tötet als Ritter heldenhaft das Böse, Christus lässt sich als Eselsreiter heilvoll von ihm töten.

Weg zur Freiheit

Christus lebt die Freiheit des wahren Menschen, der selbst Teil des Wirkens Gottes wird. Gerade in der widerstreitenden Erfahrung des Kreuzes. Darin lebt und erfährt er eine Freiheit höherer Ordnung.

Dieser Gedanke einer fortschreitenden Einübung der Freiheit (durch Zucht, Tat und Leiden hindurch) in der Begegnung des eigenen Todes spiegelt sich auch in der poetischen Skizze von Dietrich Bonhoeffer „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ (1944):

„Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“

Passion und Karwoche haben in diesem Sinn viel mit der Glaubenshaltung einer „abschiedlichen Existenz“ (Wilhelm Weischedel/Verena Kast) zutun: eines Lebens aus dem Tod heraus und eines Sterbens in das Leben hinein.

Mit Psalm 90 beten wir in der Kirche: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“. Von Ostern her sollten wir beten: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir auferstehen, auf das wir frei werden.“ Ein Leben in tiefer Freiheit, frei von allen Mächten, Ängsten und Zwängen. Ein Leben, über das der Tod schon jetzt keine Gewalt mehr hat. Ein Leben im Glanz der Ewigkeit, wenn unsere Seelen sich weiten, weil sie Gottes Gegenwart atmen. Ein Leben im Angesicht des Eselreiters Jesus Christus, der als die Liebe selbst den Tod besiegt hast. Ein Leben, dessen Rechnung in dieser Welt nicht aufgeht, weil es mit dir, Gott, rechnet.

Theologische Impulse 15, von Dr. Thorsten Latzel