„Was wird aus Erwin – jetzt, wo er tot ist?“

2.2.2020

Thorsten Latzel

„Was wird aus Erwin – jetzt, wo er tot ist?“ So lautete eine Frage, die meinen Mitvikar/innen und mir vor vielen Jahren im Predigerseminar bei ...

„Was wird aus Erwin – jetzt, wo er tot ist?“ So lautete eine Frage, die meinen Mitvikar/innen und mir vor vielen Jahren im Predigerseminar bei der Behandlung des Themas „Trauerfeiern“ gestellt wurde. Mit möglichst einfachen Worten sollten wir damals sagen, wie wir uns ein Leben nach dem Tod vorstellen. Anders als andere Probleme, mit denen man sich in der Ausbildung manchmal rumschlagen musste, stammte diese Frage unmittelbar aus dem Alltag. Viele von uns hatten schon einmal einen Menschen verloren, der uns sehr nahestand. Im Vikariat musste man selbst erstmals einen fremden Menschen beerdigen und die Angehörigen begleiten und trösten. Das berühmte „erste letzte Mal“. Fast jede Woche müssen Ortspfarrer/innen seitdem im Gottesdienst von einem Gemeindeglied Abschied nehmen. Die Frage, was aus einem Menschen nach seinem Tod wird, stellt sich jedes Mal neu – und auch die Gefahr der eigenen sprachlosen Ohnmacht oder ausgestanzten Richtigkeiten.

Den ersten Christen etwa in der Gemeinde von Thessaloniki ging es da nicht viel anders. Sie rechneten für sich selbst zwar fest damit, dass der Herr noch zu ihren Lebzeiten wiederkommen wird. Tod und Auferstehung Jesu waren im Jahre 50 ja gerade mal zwanzig Jahre her. Doch waren auch in ihrer Gemeinde mittlerweile die ersten Todesfälle eingetreten – und mit ihnen kam die Frage: Was wird aus meinem Mann, meiner Frau, meinem Kind, jetzt, wo sie tot sind?

Paulus versucht in seinem Brief an die Gemeinde in wenigen Sätzen darzulegen, dass sie sich wegen der Verstorbenen keine Sorgen machen müssen (1. Thess 4,13–18). Auf zwei Punkte hebt er dabei besonders ab.

Zunächst betont Paulus, dass die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten zum Glauben einfach dazugehört. „Denn, wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen.“ Er zieht die einfache Schlussfolgerung: Wenn Christus auferweckt ist, dann werden auch die Christen auferweckt. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar.

Zur Veranschaulichung beruft er sich dann auf ein Wort des Herrn. In eindrücklichen Bildern bietet es eine Art „Fahrplan für den Jüngsten Tag“: Der Erzengel bläst in die Posaune, Christus kommt von oben auf den Wolken, die Verstorbenen stehen auf, zusammen mit den Lebenden werden sie Christus entgegen in den Himmel entrückt, um ihn wie eine Gesandtschaft auf die Erde einzuholen. Wichtiger als die einzelnen Bilder, die sich so oder so ähnlich auch in anderen Texten aus der Zeit finden, ist die Pointe, die Paulus dem Ganzen gibt. Er unterstreicht, dass die Verstorbenen keinen Nachteil gegenüber den noch Lebenden haben. Es spielt keine Rolle, ob ein Mensch bei der Wiederkunft Christi lebt oder tot ist. Tote und Lebende werden dann in gleicher Weise „bei dem Herrn“ sein.

Gegen die drohende Sprachlosigkeit und Floskelflucht angesichts des Todes sind beide Aussagen von Paulus für mich wichtig, gerade in ihrer nüchternen Einfachheit: 1. Die Hoffnung für die Verstorbenen gehört zum Glauben an Christus einfach dazu. Und 2. Für die Teilhabe am Heil spielt es keine Rolle, ob jemand am Jüngsten Tag lebt oder tot ist.

Es ist tröstlich zu wissen, dass unsere verstorbenen Angehörigen und Freunde bei Christus sind, auch wenn wir oft nicht wissen, wie. Unsere Vorstellungen von Raum und Zeit kommen hier notwendigerweise an ihre Grenze. Doch als die, die mit der Leere leben müssen, dem Ohne, dem Fehlen des anderen, als die, die etwas verloren haben, als Hinterbliebene brauchen wir Orte und Zeiten. Orte und Zeiten, an denen wir zumindest die Spuren des Nicht-mehr erinnern können. Die leere Bank vor dem Haus, die Jacke in der Garderobe, das Grab am Friedhof. Platzhalter für den Verlust. Ein alter Pfarrer aus meiner Kindheit hat dies bei Trauerfeiern oft so ausgedrückt: „Hier liegt n.n. begraben. Er ist nicht hier.“ „Nicht hier“: das ist die negative Seite der Hoffnung. Um es positiv zu beschreiben, bleiben dann oft nur Bilder der Liebe, der Zärtlichkeit, der Geborgenheit. „In Christus“, „in Gottes Händen“, „zu Hause“ in Gottes Reich. Im „Jetzt“ des neuen Himmels und der neuen Erde, in der kein Leid, kein Geschrei, keine Tränen mehr sind. Und bei den Hoffnungsbildern ist noch vielmehr als bei den Spuren des Verlusts, dass uns nur zerbrechlich zarte Zeichen bleiben. Kerzen, Blüten, letzte Briefe.

Die Frage vom Anfang, was aus Erwin wird, jetzt, wo er tot ist, ist damit allerdings noch immer nicht ausreichend beantwortet. Paulus ruft die Thessalonicher in seinem Brief am Ende dazu auf, einander mit diesen Worten zu trösten. Doch damit wir einander trösten können, brauchen wir andere Vorstellungen und Bilder. Wir brauchen Vorstellungen und Bilder, mit denen wir unserer Hoffnung noch konkreter Ausdruck geben können. Die Bilder von dem Posaune blasenden Erzengel, dem Christus auf den Wolken und den entrückten Glaubenden, die den Thessalonichern damals geholfen haben mögen, sind für viele Menschen heute nicht mehr zugänglich. Ein bisschen zu viel apokalyptischer Barock.

Meine persönliche Antwort auf die Frage vom Anfang ist: Aus Erwin wird endlich Erwin. Das mag vielleicht etwas seltsam und verschroben klingen. Aber es bringt für mich einen wichtigen Gedanken zum Ausdruck. Was aus Erwin wird, hängt damit zusammen, wer Erwin gewesen ist. Mit dem Tod wird sein Leben hier auf Erden nicht gleichgültig. Und deshalb gibt es Hoffnungsbilder auch immer nur konkret, persönlich, individuell. Aus Erwin wird nicht auf einmal ein völlig anderer. Vielmehr geht all das, was für Erwin hier wichtig gewesen ist, mit in sein Leben nach dem Tod ein: dass er seine Eltern geliebt und bis ins Alter gepflegt hat, dass er viele Jahre glücklich mit seiner Frau und seinen zwei Kindern zusammengelebt hat, dass er gerne am See geangelt und Musik von Mozart gemocht hat. All das gehört zu Erwin. Wenn Erwin aufersteht, dann erstehen auch die vielfältigen Beziehungen auf, in denen Erwin gelebt hat. Zu Erwins Leben gehörten aber auch dunkle und schmerzhafte Seiten: der Streit mit seinem Bruder um das Erbe, der die beiden ein Leben lang getrennt hat; seine cholerische Art, die den Umgang mit ihm manchmal schwer erträglich gemacht hat; der Schlaganfall, der ihn linksseitig gelähmt hat; der unerfüllte Lebenswunsch, ein Musikstudium zu absolvieren.

Die dunklen und schweren Seiten seines Lebens werden mit dem Tod ins rechte Licht rückt. Das meint die Rede vom Jüngsten Gericht: ins rechte Licht gerückt zu werden; befreit zu werden von dem, was als Leid oder Schuld auf mir liegt; zu Gott und damit endlich zu mir selbst zu kommen. Wenn Erwin aufersteht, dann wird sein Leben ins rechte Licht gerückt, dann kommt Erwin endlich zu sich selbst.

Beides gehört zur Hoffnung, die wir für unsere Verstorbenen haben dürfen: Das Schöne und Gute in ihrem Leben bleibt bewahrt, wird entfaltet und geht mit ein in das Leben bei Gott. Das Dunkle und Schwere wird ins rechte Licht gerückt, richtiggestellt und von Gott aufgehoben.

Wie sich dann beides zueinander verhält, was zum Guten gehört, das bewahrt wird, und was zum Dunklen, das vergeht, das wissen wir nicht. Das weiß allein Gott. Doch das können wir auch ruhig Gott überlassen.

Zum Schluss eine Geschichte, in der die zuversichtliche Unsicherheit schön zum Ausdruck kommt: Zwei Mönche dachten lange und viel darüber nach, wie es einmal nach dem Tode bei Gott sein würde. Sie malten sich den Himmel in buntesten Bildern aus, doch sicher waren sie sich nicht. Als sie alt wurden, sagten sie zueinander: „Lass es uns so machen: Wer von uns beiden als Erster stirbt, erscheint dem anderen im Traum und sagt ihm entweder ‚taliter‘ – das heißt: Es ist genauso, wie wir es gedacht haben – oder ‚aliter‘, es ist anders, als wir es dachten.“ Nach einer Weile starb einer der beiden Mönche. In der darauffolgenden Nacht erscheint er dem anderen im Traum und sagt: „Totaliter aliter.“ Völlig anders.

Theologische Impulse 48, von Dr. Thorsten Latzel