Weil du fehlst … Von Einsamkeit und leeren Stühlen

22.5.2020

Thorsten Latzel

Symbolbild Die Corona-Pandemie verursacht Leiden verschiedener Art. Eine sehr intensive Form ist Einsamkeit. Wenn niemand da ist, mit dem man reden, lachen, streiten kann. Wenn die ...

Die Corona-Pandemie verursacht Leiden verschiedener Art. Eine sehr intensive Form ist Einsamkeit. Wenn niemand da ist, mit dem man reden, lachen, streiten kann. Wenn die Menschen fehlen, die für einen wichtig sind. Oder wenn man sie kaum noch sehen kann. Dies betrifft oft Menschen, die allein leben. In Deutschland etwa jede/r fünfte, rund 40 Prozent aller Haushalte. Häufig auch Ältere, weil sich die Lebenskreise mit den Jahren von selber zusammenziehen.

Mich hat in den letzten Tagen ein Interview mit dem 84-jährigen Rentner Alfons Blum berührt. Er ist seit 63 Jahren mit seiner Frau verheiratet. Seit Dezember ist sie wegen ihrer Demenz im Pflegeheim, wegen der Pandemie konnte er sie nun seit acht Wochen nicht mehr besuchen. Bei einer Demonstration in Gera erzählt er – unter Tränen – seine Geschichte einem Reporterteam von „ARD Extra“. Bis er auf einmal von einem anderen Demonstranten wütend angegangen wird, weil er nicht kapiere, dass das „Merkel-Regime“ an allem schuld sei. Wenn man ARD und ZDF zuhöre, habe man die Kontrolle über sein Leben verloren. Wut-Ideologie gegen das konkrete Leiden eines alten Menschen.

Doch Einsamkeit ist keineswegs auf Singles oder Alte begrenzt. Menschen fühlen sich allein auch mitten in ihrer Familie oder in einer glücklichen Beziehung. Ich kann einsam sein, auch wenn andere um mich sind. Noch viel mehr, wenn die ganze Besetzung meines Lebens mit einem Mal radikal zusammengestrichen ist. Das Fehlen von Freunden, die mich verstehen. Von Kolleginnen, mit denen ich gemeinsam eine Arbeit leiste, Teil von etwas Größerem bin. Oder einfach von vertrauten „Gesichtern“ ohne Namen, die ich sonst auf der Straße, in der Kirche oder am Kiosk getroffen habe. Zu meinem Leben gehört ein ganzer Schwarm von „anderen“. Normalerweise.

Beim Start einer Videokonferenz wurde mir kürzlich angezeigt: „Teilnehmende 1“. Ich habe mich gefragt: Wie würde es sich anfühlen, wenn ich wüsste, dass sich den ganzen Tag daran nichts ändert? Zooming alone. Und selbst wenn andere sich zuschalten: Menschen, die mit Displays sprechen, auf denen andere zu sehen sind, die das Gleiche tun. Gewiss, besser als nichts. Aber Bildschirmen kann man eben nicht begegnen.

„Weil du fehlst …“ Dass es im Leben eine Lücke gibt, gehört zu den Grunderfahrungen vieler Religionen. Im Judentum gibt es den Brauch, bei Pessach einen Stuhl für Elia freizuhalten. Bei der Feier des Heiligen Abends in Polen, der Wigilia, wird ein zusätzlicher Platz für einen unerwarteten Gast eingedeckt – auf dass es den Marias und Josefs unserer Tage anders ergehen möge. Mobiliarer Ausdruck einer sozialen Leerstelle. Als Gastronomen Ende April mit leeren Stühlen auf öffentlichen Plätzen demonstrierten, spiegelte sich etwas davon wider. „Wenn Gast kommt, Gott kommt.“ Wie wird dieser – in schönen Zeiten gern zitierte – Satz religiöser Gastfreundlichkeit eigentlich in Zeiten von Covid-19 gehört: Kein Gast, kein Gott? Oder stehen die leeren Stühle für die dunkle Seite Gottes? Seine Ferne, sein Fehlen, sein Schweigen? Neben der politischen Forderung auch ein Ausdruck säkularisierter Klage?

Es geht nicht, von Gott nur in Schönwetterphasen zu sprechen. Umgekehrt halte ich es für theologisch platt, wenn manche religiösen Prediger die Pandemie vollmundig als Strafe Gottes interpretieren. Leider passen Seuchen ideal in die Vorstellungswelt frommer Fundamentalisten: Sie machen Menschen Angst. Und sie bieten Anlass, anderen Sünde, Hölle, Tod und Teufel zu predigen. Nein. „Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ (Röm 11,33) Der Satz richtet sich gerade gegen Menschen, die sich selbst für die persönlichen Berater Gottes halten. Nochmals nein. Wir kennen nicht Gottes Wege in der Geschichte (Jes 55,8f.). Und der Versuch, es doch zu wissen, ist allzu oft schiefgegangen. Unsere Aufgabe ist es, mit der Erfahrung umzugehen, die viele Menschen in der Pandemie machen: dass Gott fehlt, ferne ist, schweigt.

„Weil du fehlst …“ Ein paradoxer Umgang mit dem Fehlen Gottes zeigt sich an Christi Himmelfahrt, das in diesen Tagen gefeiert wurde. Es geht an dem Fest ja eigentlich um einen sozialen Verlust: Die unmittelbare Begegnung zwischen dem Auferstandenen und seinen Jüngerinnen und Jüngern endet. Doch Markus und besonders Lukas, der gleich zweimal von der Entrückung Jesu berichtet (Lk 24,50ff., Apg 1,1ff.), geben dem Abschied eine positive Wendung. Zum einen sitzt der Auferstandene nun zur Rechten Gottes (Mk 16,19). Der die Welt in Händen hält, ist niemand anderer als der, der mit den Menschen leidet. Und der ihre Einsamkeit von der Wüste bis zum Garten Gethsemane geteilt hat. Das Ende seiner Präsenz wird so zum Beginn einer neuen Gegenwart. Zum anderen werden die Jüngerinnen und Jünger geerdet und aufeinander verwiesen. Von den Engeln schön formuliert: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht in den Himmel?“ (Apg 1,11) Bei der Himmelfahrt Christi geht es auch um die Erdenfahrt der Christen. Es ist der Anfang dafür, die Lücke des irdischen Jesus zu füllen und füreinander zum Christus zu werden: Hungrige speisen, Nackte kleiden, Fremde aufnehmen, Kranken helfen, Unterdrückten beistehen – und Einsame nicht allein lassen. Ganz im Sinne des mitleidenden Weltenrichters (Mt 25, 31ff.). Himmelfahrt hat so etwas mit Erwachsenwerden zu tun. Und mit einer Erdung des Glaubens.

In der Pandemie leiden viele Menschen. Ältere Menschen wie Alfons Blum und seine Frau in Gera. Gastronomen, Künstlerinnen, kleine Geschäfte, die keine Kunden mehr haben. Und auch Menschen, die bei keiner Demonstration mitgehen: weil sie sich allein um ihre Kinder kümmern, weil sie in Flüchtlingslagern leben, weil die Krise sie psychisch krankmacht, weil sie nach einem Zehn-Stunden-Tag als Päckchenbote nicht mehr können. „Die im Schatten sieht man nicht“ – das gilt leider auch für viele Menschen im Schatten von Corona. Es ist wichtig, dass wir uns – im Sinne Christi – um diese konkreten Nöte von Menschen kümmern. Um die vielen Formen der Einsamkeit, in der wir einander fehlen. Das ergibt für mich mehr Sinn, als wie die Männer damals in den Himmel zu starren oder wie heute (noch dazu in einer freien, demokratischen Gesellschaft) auf „die da oben“ zu schimpfen.

„Weil Du fehlst“

Weil Du uns fehlst, Gott,
an allen Enden
mit Deiner Liebe, Deiner Hilfe, Deinem Verzeihen,
mach uns zu Menschen füreinander.
Wir vertrauen darauf,
dass Du, Gott, es zu einem guten Ende bringen wirst,
wo unsere Liebe, unsere Hilfe, unser Verzeihen nicht reichen.

„Weil ich nicht verstehe“

Gott, ich verstehe nicht:
Dich nicht, mich nicht, die Welt nicht.
Doch ich will es aushalten:
Dich, mich, die Welt.
So wie Christus neben dir.
Und will in seinem Namen leben.
Bis Du es mir einmal erklären wirst.
Und ich mich und die Welt einmal erkennen werde.
So wie wir von Dir erkannt sind. (TL)

Theologische Impulse 57, von Dr. Thorsten Latzel

Foto: Ester Merbt/Pixabay.co