Von Einsam-, Zweisam- und Allsamkeit

19.7.2019

Thorsten Latzel

Die erste Sache, die Gott am Anfang der Bibel im Blick auf den Menschen feststellt – gleich nach der schöpferischen Prädikatsnote „Und siehe, es war ...

Die erste Sache, die Gott am Anfang der Bibel im Blick auf den Menschen feststellt – gleich nach der schöpferischen Prädikatsnote „Und siehe, es war sehr gut“ – lautet: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein (oder genauer: einsam) sei“ (1. Mose 2,18). Das stimmt. Eine tiefe existentielle Grundwahrheit: Einsamkeit ist Mist. Als negativ empfundene soziale Isolation unterscheidet sie sich von anderen, mitunter durchaus gewollten Formen des Alleinseins. Etwa aus kreativen oder asketischen Gründen. Alleinsein kann wertvoll und bereichernd sein, wenn man „für sich selbst ein heilsamer Umgang ist“ (M. von Ebner-Eschenbach). Einsamkeit dagegen macht krank. Mutter Theresa bezeichnet sie als die schlimmste Armut.

Nicht von ungefähr gibt es in Großbritannien seit 2018 ein „Ministry of Loneliness“. Jeder siebte Einwohner fühle sich dort regelmäßig einsam, quer durch alle Altersstufen. 200.000 alte Menschen hätten seit einem Monat kein Gespräch mehr mit einem Freund oder Verwandten gehabt. Aber auch junge, arbeitende Menschen leiden unter dem Gefühl, abgesondert, isoliert, allein zu sein, oft mitten unter anderen Menschen. In individualisierten Gesellschaften anderer Länder findet sich ähnliches. Eine Studie des Roten Kreuzes spricht von einer „Epidemie im Verborgenen“. Einsamkeit schade der Gesundheit mehr als 15 Zigaretten am Tag – ein eindrücklicher Vergleich, auch wenn ich nicht weiß, wie sich Pest mit Cholera vergleichen lässt. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein – einsam – sei“.

Die Frage ist nur, ob die Lösung mit der Zweisamkeit immer so viel besser ist. Es gibt ein Leiden, mit sich selbst alleine zu sein. Und es gibt ein Leiden, mit einem anderen Menschen zusammen zu sein. Wenn etwa Zusammensein die Einsamkeit nicht vertreibt, sondern vertieft. Die gegenwärtige Scheidungsquote von über einem Drittel aller Ehen spricht hier eine eigene Sprache. Noch mehr die unbekannte Zahl unglücklicher Paare, die sich niemals trennten, es aber vielleicht hätten tun sollen.

Nicht Zweisamkeit löst die Einsamkeit, sondern Liebe. Die französische Schriftstellerin Yasmina Reza beschreibt in ihrem Roman „Glücklich die Glücklichen“ (2013) in kunstvoll verwobenen Episoden die Einsamkeit von Menschen mit und ohne Partner/in. Von Paaren, die sich heillos beim Einkaufen an der Käsetheke zerstreiten oder die sich den abgründigen Liebessatz zuraunen „Heute Abend essen wir was Schönes, mein Herz“, um die Zweisamkeit zu ertragen. Menschen, die sich mehr oder weniger verzweifelt an den anderen hängen, um mit der eigenen Einsamkeit klarzukommen. Und die sich gerade darin überfordern. „Glücklich die Geliebten und die Liebenden und die auf die Liebe verzichten können. Glücklich die Glücklichen“. Die von Reza eingangs zitierten, titelgebenden Zeilen von Jorge Luis Borges drücken diese Paradoxie in besonderer Weise aus. Zur Liebe gehört beides: das Vertrauen, sich einander gegenseitig wirklich hinzugeben, und die Freiheit, dennoch nicht voneinander abhängig zu sein. Aus Liebe auf Liebe verzichten können – „Glücklich die Glücklichen“. Ich glaube, dass darin ein Geheimnis unserer endlichen, begrenzten Liebe zueinander liegt. Wir werden in der Liebe einander nur gerecht, wenn wir uns mit unserem Wunsch zu lieben und geliebt zu werden nicht uns selbst oder unsere Partnerin überfordern. Es braucht gleichsam ein Drittes, eine unbedingte Liebe jenseits unserer Möglichkeiten, die uns freimacht, den anderen zu lieben und zu lassen. Die letzte Einsamkeit überwinden wir nicht selbst, auch nicht in Zweisamkeit. Sie endet, wenn wir uns selbst als bestimmt von einer letzten, unbedingten, umfassenden Liebe erfahren. Religiös gesprochen, wenn sich uns die „Allsamkeit“ der Liebe Gottes erschließt. Dass ich und du und alles, was war, ist und sein wird, aus dieser Liebe entstanden ist, in ihr ruht und einmal wieder in ihr sein Ziel finden wird.

Die Liebe zwischen Menschen besteht darin, dass „sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden“ (Rainer Maria Rilke). Und die Liebe Gottes darin, dass ich mich selbst als Teil einer allumfassenden Liebeswirklichkeit erfahre und lerne, liebevoll mit meiner eigenen Einsamkeit und der aller anderen umzugehen.

Unfromme Traufragen an verliebte Paare

– Könnt ihr ehrlich und offen miteinander streiten, ohne einander zu verletzen?
– Was bedeutet für euch Ordnung, im Bad, in der Küche, im Keller?
– Wie wichtig ist euch Sex und wisst ihr, was sich die/der andere wünscht?
– Wollt ihr Kinder haben und was soll einmal von euch bleiben?
– Wie steht ihr zum Thema Geld, Haus, Auto?
– Welche Stellung hat für euch Gott und Glaube?
– Worauf kommt es für euch im Leben an?
– Wie geht ihr mit Einsamkeit um, eurer eigenen und der des anderen?
– Was ist euer Bild davon, alt zu werden?
– Und könnt ihr es aushalten, einander nicht alles zu sein? (TL)

Zauberhafte Liebes-Nüchternheit

Dass Du mich
und ich Dich
und wir einander
lieben,
ist ein Wunder.
Eine Gabe. Ein Geschenk.
An dem wir jeden Tag neu
ordentlich zu schaffen
haben. (TL)

Theologische Impulse 28, von Dr. Thorsten Latzel