Baumheilige oder: Wie man vom eigenen Baum wieder runterkommt

31.5.2019

Thorsten Latzel

Es gibt Menschen, die haben eine verkrümmte und verzwergte Seele. Sie können sich selbst und andere – aus welchem Grund auch immer – nicht wirklich ...

Es gibt Menschen, die haben eine verkrümmte und verzwergte Seele. Sie können sich selbst und andere – aus welchem Grund auch immer – nicht wirklich lieben. Sie wissen alles besser oder meinen das zumindest. Sie haben an allem und jedem etwas auszusetzen. Von der Welt, dem Leben, den Menschen sind sie ständig missverstanden, ungerecht behandelt, zutiefst verletzt. Passive Aggressivität in Permanenz. Vor so einer „Seelen-Verzwergung“ sollte man sich tunlichst schützen. Es tut einem oft schlicht nicht gut, mit solchen Menschen umzugehen.

Das heikle ist nun, dass solche Neigungen nicht nur bei anderen existieren. Vielleicht kennen Sie das auch von sich: Im Chor meiner inneren Stimmen gibt es da eine mit so einer hohen, fisteligen Tonlage. Den spitzen Sopran meines „Kritiker-Ichs“. Wenn es sich meldet, hört man es sehr schnell heraus. Mit einem nerv-tötenden Ton. Wie alle Kritiker hat es etwas Eunuchenhaftes an sich. Im Zweifel weiß dann auch mein „Kritiker-Ich“ es immer besser – vor allem, wenn es eine Sache nicht selber machen muss. „Wie kann man nur solche Klamotten tragen, so einen Schwachsinn sagen, sich so nach draußen wagen! Wie peinlich ist das denn?“ Wie schön könnte die Welt doch sein, wenn wir aufhören würden, es für andere immer besser zu wissen! Gäbe es doch heilsame Heiserkeit für Kritikaster.

In den Jesus-Geschichten der Bibel spielt die Auseinandersetzung mit dem eigenen „Kritiker-Ich“ und den verzwergten Seelen eine große Rolle. Eine Geschichte, in der dies besonders eindrücklich erzählt wird, ist die von Zachäus. Sie kennen sie vielleicht noch aus Kindheitstagen. Da ist der reiche Oberzöllner Zachäus in Jericho, der den berühmten durchreisenden Wanderprediger Jesus gerne sehen möchte. Aber weil er so klein ist und weil die Leute ihn nicht leiden können, muss er ganz unstandesgemäß auf einen Baum klettern. Da sitzt sie nun, diese kleine verkrümmte, verzwergte Seele: wohlhabend und allein, erhöht und ausgegrenzt, mächtig und klein. Und dann passiert es: „Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.“ (Lukas 19, 5-6). Und mit jedem Ast, den Zachäus eilig herunterklettert, sieht man seine Seele förmlich wachsen. Jesus lädt sich selber ein und macht so aus dem Oberzöllner, der andere abzockt, einen Gastgeber, der anderen den Tisch deckt. Ein Sozialwunder seelischer Entzwergung.

Doch prompt meldet sich der große Chor der Kritikaster: „Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.“ Und natürlich haben sie recht. Wo kämen wir hin, wenn korrupte Kapitalisten sich auch noch den Heiland der Welt unter den Nagel rissen? „Lieber Christus, nichts für ungut, aber das war nicht besonders geschickt. Bei einem der zu Unrecht verfolgten Freiheitskämpfer einkehren – oh ja! Oder bei einer armen Witwe, am besten mit einer wundersamen Brotvermehrung – auch nicht schlecht! Meinetwegen sogar bei einem Aussätzigen, der dann geheilt ist. Doch bei einem (nicht nur körperlich) kleinen, korrupten Reichen?“ Und all die vielen Kritiker-Christusse in der Menge murrten. Doch nun geschieht das eigentliche Wunder in der Geschichte: Die verzwergte Seele wird zum großen Geist. „Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“ Nach dem Tod des Korrupten auf dem Baum die Auferstehung des Kreativen am Tisch. So eilig und freudig er aus seinem alten Ich herausgeklettert ist, so überschwänglich steigert er sich jetzt in seine Freigebigkeit hinein. Die Hälfte für die Armen und das Vierfache für die Betrogenen. Wie der neue Zachäus das machen will (in Jericho von Tür zu Tür gehen?) und wie bei dieser Rechnung überhaupt noch etwas übrigbleiben soll, wird nicht erzählt.

Bei Wunder- wie bei Liebesgeschichten wird nicht alles gezeigt. Am Ende steht nur die Feststellung Jesu – an ihn und wie wohl auch an den Chor der Kritiker: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams.“

Im Glauben geht es wesentlich um die Kunst, von dem eigenen Baum wieder herunterzukommen, auf den man geklettert ist. Das nennt sich traditionell „Umkehr“. Und dazu braucht es jemanden, der einem runterhilft. Für die verzwergten Seelen der anderen wie für das „Kritiker-Ich“ in mir. Es braucht die Begegnung mit dem anderen, der den schlafenden Seelen-Riesen in mir weckt. Der sich selbst an meinen Küchentisch einlädt und mich so an meinen Reichtum erinnert. Der mich neu sehen lässt, was ich anderen geben kann. Und der mich auch großherzig macht, wenn es darum geht, anderen von ihren Bäumen herunter zu helfen. Und sei es durch „geistliche Räuberleiter“.

Dendrit, der (m.) – Baumheiliger 

Oben auf dem Baum
Kann er wieder alles messerscharf sezieren:
Die unmöglichen Nachbarn,
Die inkompetenten Kollegen,
Die Mängel, Makel, Macken der anderen.
Mein Baumheiliger auf Beobachtungsposten.
Hoch erhaben über dem Pfuhl der Welt
In eisiger Einsamkeit
Mäkelt, nörgelt, krittelt er
rechthaberisch ungeliebt
überall stets an allem,
bis der Ast bricht.
Oder einer unten am Stamm
auf ihn wartet. (TL)

Theologische Impulse 21, von Dr. Thorsten Latzel