Bruder Blauauge oder: Die wahre Geschichte vom verlorenen Sohn

8.12.2019

Thorsten Latzel

Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass es bei den Geschwistern im Märchen wie in der Bibel meistens die Jüngsten sind, die eine besondere Rolle ...

Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass es bei den Geschwistern im Märchen wie in der Bibel meistens die Jüngsten sind, die eine besondere Rolle spielen? Der Kleinste findet als Dummling „Die Goldene Gans“, rettet Tier und Mensch in „Die Bienenkönigin“ oder gewinnt das Königreich in „Die drei Federn“; die jüngste Tochter knallt den „Froschkönig“ gegen die Wand, überlebt als siebtes Geißlein im Uhrenkasten oder rettet die „Zwölf Brüder“ und die „Sieben Raben“; der letztgeborene Bruder zieht aus, das „Fürchten zu lernen“, erbt den „gestiefelten Kater“ oder fängt den „goldenen Vogel“. Ebenso ist es bei den biblischen Geschichten. Es sind die Jüngsten, die auserwählt sind und den Segen tragen: Abel wird dies zum Verhängnis; bei den Erzvätern und -müttern tragen die Jüngsten den Segen: Isaak, Jakob, Rahel, Benjamin; Mose, Gideon, David werden berufen, obwohl oder gerade weil sie ältere Geschwister haben; die jüngere Schwester Maria hat das bessere Teil erwählt.

Eine Umkehrung des Senioritätsprinzips, der herrschenden Werte in der Welt. Die unscheinbare Jüngste, der weltfremde „Bruder Blau-Auge“, die versonnene Träumerin – sie bestimmen hier den Lauf der Geschichten. Nicht, weil sie irgendwie besser, klüger oder stärker wären. Im Gegenteil. Sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sich ihnen das fundamentale Angewiesen-Sein auf „Wünsche“ (Märchen) und „Wunder“ (Bibel) besonders erschließt, weil sie eben sonst nichts haben.

Ähnlich ist es bei der Geschichte „Vom verlorenen Sohn“ (Luk 15,11ff.). Natürlich ist es wieder der Jüngere. Und auch er wird auf besondere Weise erfahren, wie fundamental angewiesen und zugleich wundersam angenommen er ist.

Aber: Kennen Sie eigentliche die wahre Geschichte? Ich meine, so wie es sich tatsächlich zugetragen hat? Viele Gleichnisse, die Jesus erzählt hat, erschließen sich erst wirklich, wenn man sie „auto-fiktional“ versteht: Es sind Erzählungen, die vom Erzähler handeln. Jesus wird in den Geschichten selbst zum Gleichnis. So ist das auch bei der Geschichte „Vom verlorenen Sohn“. Ich glaube, dass sich Jesus, der „einziggeborene“ Sohn Gottes, in dem jüngeren Sohn spiegelt. Und dass die Geschichte des „Sich-Verlierens“ eine ganz neue Dimension erhält, wenn man sie auf dem Hintergrund der freiwilligen Selbsthingabe Jesu liest. Ein Versuch:

Ein Vater im Himmel hatte einen einzigen jüngsten Sohn. Und der Sohn sprach zu dem Vater: „Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht.“ Und er gab es ihm.

Und nicht lange danach sammelte der Sohn alles zusammen, wurde Mensch und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbe durch mit Prassen. Er ging keiner festen Arbeit nach, sondern zog mit seinen Freunden durch das Land, predigte von Liebe und dem Reich Gottes, von einem Leben wie die Vögel unter dem Himmel und wie die Blumen auf dem Felde.

Er hatte große Gaben, bewegte Menschen mit seinen Worten, heilte Kranke, erweckte Tote – doch alles immer gratis. Und er war oft in schlechter Gesellschaft, aß mit Huren, Zöllnern und Sündern.

Als er nun all das Seine verbraucht hatte, alle Worte gesagt, alle Wunder getan, alle Liebe gelebt, da kam eine große Not über ihn und er fing an zu zittern, zu ringen, zu beten. Am Ende war er sprichwörtlich „vor die Säue“ geraten. Und er hoffte, dass ihm jemand ein bisschen Trost für seine Seele geben würde. Doch es war niemand da, der ihn tröstete.

Da ging er in sich und sprach: „Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: ‚Vater, ich habe mich verliebt, verloren, verlaufen, verirrt – gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht besser als die anderen und hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!‘“

Und er machte sich auf, hinauf zur heiligen Stadt. Dort hielten sie aber wegen seines Lebenswandels scharf über ihn Gericht und ließen ihn hängen – draußen vor den Toren, an der Schädelstätte, am Kreuz. So kam er zu seinem Vater.

Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und wollte ihm um den Hals fallen und ihn küssen. Der Sohn aber konnte nichts mehr sagen als nur: „Verloren“ und „Warum“.

Am dritten Tage aber, als die Sonne aufging, sprach der Vater zu seinen Engeln: „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er hat sich aus lauter Liebe verloren und ist gefunden worden.“ Und sie fingen an, im Himmel fröhlich zu sein.

Die anderen aber, all die älteren Söhne, die Religiösen, Frommen und Angesehenen aller Lande, waren unten auf der Erde. Und als sie näher zum Himmel kamen, hörten sie Singen und Tanzen und sie riefen zu sich einen der Engel und fragten, was das wäre.

Der aber sagte ihnen: „Euer Bruder ist gekommen, und euer Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat.“

Da wurden sie zornig und wollten nicht hineingehen. Da ging ihr himmlischer Vater heraus und bat sie. Sie antworteten aber und sprachen zu ihrem Vater: „Siehe, so viele Jahre dienen wir dir und haben deine Gebote noch nie übertreten, und du hast uns nie einen Bock gegeben, dass wir mit unseren Freunden fröhlich gewesen wären. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.“

Er aber sprach zu ihnen: „Meine Söhne, ihr seid allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist euer. Ihr solltet aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser euer Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er hat sich aus lauter Liebe verloren und ist wiedergefunden.“

Am Ende hörte ich meinen großen Bruder in mir schimpfen: „Bei aller Liebe, aber das ist echter theologischer Stuss. Der jüngere Bruder in der Geschichte ist einfach ein verantwortungsloser, egoistischer Typ, ein Sünder. Der hat mit unserem Herrn Jesus Christus nichts, aber auch gar nichts zu tun.“

Worauf mein kleiner Bruder in mir lächelte: „Och, mir gefällt die Idee ziemlich gut. Das steht so herrlich quer zur allzu-frommen Versuchung, aus Jesus Christus immer wieder den ultimativen Big Brother, „den Herrn“, zu machen. Nur um sich dann selbst wie sein religiöser Unteroffizier aufspielen zu können: ‚Wenn ihr nicht tut, was ich euch sage, gibt’s Kasalla.‘“

„So typisch weichgespülter liberaler Wischi-Waschi-Brei, wenn man sich nicht traut, glasklar von Schuld, Vergebung und vom Gericht Gottes zu reden. Damit kann echt niemand etwas anfangen.“

„Oder es ist viel frommer als du denkst: ‚Er entäußert sich selbst‘, ‚wird für uns zur Sünde gemacht‘: Da geht‘s um ein echtes Wagnis der Liebe Gottes.“

Als die beiden sich nicht einigen konnten, was unter „Brüdern im Herrn“ geflissentlich vorkommt, ging ich irgendwann zu Bett.

Drei Weisen, sich zu verlieren

Es gibt die Verlorenheit der älteren Geschwister
die immer alles richtig machen
die genau wissen, wie Welt, Leben, Glaube funktionieren,
doch Liebe nie wirklich verstehen.

Es gibt die Verlorenheit der jüngeren Geschwister
die immer alles anders machen
die sich verzetteln, alles vermasseln, sich vertun,
um am Ende bei den Säuen zu lernen,
warum es Liebe braucht.

Und es gibt die tiefe Verlorenheit Gottes,
der die einen nicht zurückhalten
und die anderen nicht hereinholen kann
dem deshalb nichts anderes bleibt,
als sich selbst zu verlieren,
um beide liebend zu gewinnen. (TL)

Theologische Impulse 43, von Dr. Thorsten Latzel