Bruder Judas. Eine Übung im moralischen Sehen

26.4.2019

Thorsten Latzel

Fragt man einmal nach den unmoralischsten Menschen, die einem einfallen, so würde man heute aktuell vielleicht Trump nennen, oder Erdogan, Assad, Putin. Mit längerer geschichtlicher ...

Fragt man einmal nach den unmoralischsten Menschen, die einem einfallen, so würde man heute aktuell vielleicht Trump nennen, oder Erdogan, Assad, Putin. Mit längerer geschichtlicher Perspektive Hitler, Stalin, Pol Pot.

Früher war das anders: natürlich gab es damals auch tyrannische, grausame Herrscher. Doch am schlimmsten waren nicht sie, sondern die Verräter. Die Denunzianten, Anschwärzer, Verleumder, Aushorcher, Zuträger, Petzen: Brutus, Gaius Crassus und Judas. Folgt man Dante in der Göttlichen Komödie so gibt es in der tiefsten Hölle einen eigenen Bereich, die Judecca, in welcher der Teufel diese drei Erzverräter in seinen drei Mäulern zermalmt.

Der Verrat galt als eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt:
– weil es von einem Menschen geschieht, der einem lieb und nahe ist,
– weil es die Liebe, das Gute, die Freundschaft mit Undank lohnt,
– weil es schlecht in sich ist (in früherer Sprache ein „malum in se“). Es gibt, so die Vorstellung, keinen „guten Verrat“.

So wie bei Judas, dem Erzverräter schlechthin, der den Menschensohn ans Messer liefert, so wie wir es in der Karwoche immer am Gründonnerstag feiern – und bei jeder Feier des Abendmahls erinnern: „Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht in der er verraten ward, nahm er das Brot …“ Die Nacht des Verrats, wenn alle Lichter verlöschen.

Doch was sehen wir eigentlich „moralisch“, wenn wir diese verwerfliche Tat sehen?

Mehrdeutig ist bereits sein Beiname Iskariot: Meint es den Mann aus Kariot (Isch Qerijot), den einzigen Judäer im Kreis der galiläischen Jünger? Oder steht es für Sikarier, den Dolch-Träger, den religiösen Eiferer?

Mehrdeutig ist auch das griechische Verb „paradidomi“, mit dem seine Tat beschrieben wird: Verrät er Jesus? Oder liefert er ihn aus? Oder übergibt er ihn? Dies sind wichtige Unterschiede und alle Übersetzungen sind sprachlich möglich.

Mehrdeutig sind vor allem auch die Gründe und Folgen seiner Tat: Matthäus schildert Judas als reuigen Sünder, der dreißig Silbergroschen von den Hohen Priestern erst einfordert, nach seiner Tat zurückgibt und sich erhängt.

Lukas erzählt, dass der Satan in ihn gefahren sei und er später auf den vom Blutgeld gekauften Acker stürzt, so dass seine Eingeweide herausfallen. Nach Johannes ist Judas schließlich der untreue Finanzverwalter des Kreises um Jesus und ein Dieb.

Wie nun: Hat Judas Jesus aus Geld-Gier verraten? War es ein Wirken des Satans? Oder wollte er als religiöser Eiferer Jesus nur zum Handeln zwingen, damit er endlich seine Macht offenbart? Tat er es gar, wie Walter Jens betont, im Auftrag des Herrn, weil sich nur so das Heil erfüllen konnte: ohne den Verrat des Judas kein Kreuz und kein Ostern. So deutet er etwa den Auftrag Jesu: „Was du tun must, das tue bald.“ Auch Amos Oz deutet die Tat des Judas in seinem gleichnamigen Roman von 2015 als Akt der Loyalität – und zeigt die fatalen Folgen, die gerade die Sicht des Judas für das Verhältnis von Christen und Juden hatte.

Was sehen wir also moralisch, wenn wir Judas am Tisch des Herrn sehen? Was ist das ethische Verständnis dessen, was in der Nacht des Verrats geschah?

Ich glaube, dass all unserem Handeln eine moralische Mehrdeutigkeit innewohnt. Eine Selbstsucht in der Liebe und eine zärtliche Hinwendung im Verrat. Bis zum Kuss des Judas.

Ich glaube, dass sich in Judas ein Scheitern an der Liebe spiegelt, urmenschlich – tragisch und schuldhaft zugleich.

Alle Jünger fragen Jesus: „Bin ich es Herr, der dich verrät?“ Keiner ist sich sicher, dass er es nicht ist.

Ich glaube, dass es eines der größten Hoffnungssymbole christlichen Glaubens ist, dass Judas mit am Tisch des Herrn sitzt. Immer wenn wir Abendmahl feiern. Auch ihm gibt Jesus das Brot: „mein Leib für dich gegeben“. Und den Kelch: „mein Blut für dich vergossen“. Es gibt keine Gemeinschaft mit Christus ohne Tischgemeinschaft mit Judas.

Ich glaube, dass die Geschichte des Judas offen ist und bleibt – bis zum Schluss. Weil Gott sie offenhält.

In dem kleinen Dorf Vézelay am französischen Jakobsweg steht die Basilika Sainte-Marie-Madeleine. Auf einem ihrer berühmten Säulen-Kapitel sind zwei Bilder zu sehen. Zunächst der an einem Strick erhängte Judas mit lang heraushängender Zunge. Möglicher Hinweis auf seinen Verrat wie auf seine Besessenheit, die ihm am Ende sprichwörtlich aus dem Hals heraushängen. Und dann Christus, in der Haltung des guten Hirten, der auf seinen Schultern den Leichnam des Judas trägt. Judas als das verlorene Schaf. Der Herr ist auch sein Hirte. Er hat ihn gefunden. Er trägt ihn liebevoll. Er bringt ihn heim. Ein beeindruckendes Bild – als Inbegriff unserer christlichen Hoffnung.

Theologische Impulse 16 von Dr. Thorsten Latzel