Das Zittern meiner linken Hand

26.7.2019

Thorsten Latzel

Vielleicht kennen Sie das auch, dass eins Ihrer Körperteile nicht tut, was es soll: Das Ohr pfeift, das Knie scheuert, der Magen krampft. Jede/r hat ...

Vielleicht kennen Sie das auch, dass eins Ihrer Körperteile nicht tut, was es soll: Das Ohr pfeift, das Knie scheuert, der Magen krampft. Jede/r hat seine/ihre eigene Achillessehne. Bei mir ist es (neben ein paar anderen Macken) gerade meine linke Hand. Sie zittert. Das tut sie eigentlich schon immer, so lang ich denken kann. Essentieller Tremor. Nicht weiter schlimm. In den letzten Jahren ist es nur intensiver geworden. Was recht lästig werden kann, etwa beim Halten von Suppenschälchen bei Empfängen. Als ich einen Facharzt noch einmal dazu befragt habe, meinte er lapidar: „Na, Ihre Rechte zittert ja ebenfalls. Das fällt nur nicht so auf.“ Auch nett.

Wenn am eigenen Körper etwas nicht richtig funktioniert, fehlt oder seltsam aussieht, bekommt die Sache für einen persönlich oft mit einem Mal einen besonderen Wert. Ich habe etwa 48 Jahre lang nie auch nur im Geringsten das wahre Wunderwerk meines Schultergelenks gewürdigt, bis ich es mir gebrochen hatte. Was meine linke Hand betrifft: Ich finde mittlerweile Neurochirurgen, Pianisten und Bogenschützen faszinierend. Dr. Derek Shepherd in „Grey’s anatomy“, den Musiker Don Shirley in „Green Book“ oder Russell Crowe als „Robin Hood“. Alles Helden, die ihre Taten mit „ruhiger Hand“ vollbringen. Ein Ausdruck für aufreizende Gelassenheit, kompetente Souveränität, tiefen zen-artigen Einklang mit sich selbst. Geht mit meiner Hand leider alles nicht. Meine Linke zittert (schon gut, die Rechte auch). Von daher ist es auch perspektivisch gut, dass ich Pfarrer geworden bin. Beim Segnen hat das Zittern eher eine magische Wirkung (auf jeden Fall besser als bei einer Gehirn-OP).

Nun will ich mich gar nicht beschweren. Handicaps gehören zum Menschsein dazu. Was wäre unsere Menschheit ohne die Gehandicapten. Moses hat wohl gestottert. Sokrates war ausnehmend hässlich. Aristoteles Epileptiker. Thomas von Aquin adipös. Bei Mozart besteht Verdacht auf Tourette-Syndrom. Frida Kahlo litt an Kinderlähmung und Spina bifida. Stephen Hawking an der degenerativen Nervenkrankheit ALS. Helen Keller war taubblind. John Nash schizophren. Jürgen Habermas kam mit einer Gaumenspalte zur Welt. Und Lady Gaga hat neben Bulemie eine Auto-Immun-Krankheit. Wie wäre die Geistes- und Kulturgeschichte eigentlich verlaufen, wenn man zu früheren Zeiten schon eine umfassende Pränataldiagnostik hätte durchführen können: „Herr und Frau Einstein, ich muss Ihnen leider mitteilen, Ihr Kind könnte möglicherweise behindert sein“? Wir hätten lauter kerngesunde Schaufensterpuppen, mit ruhigen Händen. Ohne körperliches oder psychisches Leiden weg reden zu wollen: „Behinderung“ ist der treffende Ausdruck für die Unfähigkeit einer Gesellschaft, mit der besonderen Eigenart und den Einschränkungen von Menschen umgehen zu können. In Kindheit und Alter gehören Handicaps ohnehin flächendeckend dazu. Angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 80 Jahren ist es schon verwunderlich, dass wir ungefähr ein Drittel unseres Lebens zwischen 15 und 40 als „normal“ ansehen und den Rest als „handicap-time“.

Eine zentrale Frage ist, wie ich lerne, mit meinen Einschränkungen und Behinderungen umzugehen. Nicht nur praktisch (Suppe vermeiden), sondern auch im Blick darauf, wie ich mich, mein Leben, Gott verstehe. In der Bibel spielt das eine große Rolle. Etwa in den Berufungsgeschichten von Prophet/innen. Sie laufen meist nach einem ähnlichen Schema ab. Gott beauftragt einen Menschen. Der sagt, dass er zu klein, dick, dumm und hässlich und überhaupt zu ungeschickt sei. Und Gott sagt, dass er es trotzdem tun soll, weil er mit ihm ist. Das finde ich hilfreich, dass ich mich in meiner „Bestimmung“ nicht durch meine Behinderung beschränken lassen sollten. Eine ältere Besucherin unserer Akademie, die nur noch sehr schwer hören und laufen kann, hat das einmal auf eindrückliche Weise ausgedrückt: „Ich lasse mir durch meine Krankheit doch nicht vorschreiben, was ich tue oder nicht.“

Eine besonders intensive Auseinandersetzung mit eigenem Leiden findet sich bei Paulus (2. Kor 12). Es ist eine Stelle von tiefer persönlicher religiöser Erkenntnis – und zugleich eine Stelle, die in der Kirche viel Unheil angerichtet hat. Paulus spricht dort von einem „Pfahl im Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe (wegen meiner hohen Offenbarung). Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“

Die Verse sind in der Geschichte der Christen oft als eine religiöse „Umwertung der Werte“ (Nietzsche) verstanden worden: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“. Eine Sichtweise, die dann alles Starke, Schöne, Kluge … suspekt erscheinen lässt – und in Schwachheit, Leiden, Krankheit umgekehrt einen positiven Wert an sich sieht. Was für ein Unsinn! Und was für ein madenwurmiges, popeliges Denken, das glaubt, Gott näher zu sein, indem es sich selbst – und andere – immer kleiner, grauer, hässlicher macht. Gott hat überhaupt kein Problem mit meiner Schönheit. Und auch nicht damit, wenn ich klug, stark, gesund bin. Im Gegenteil: Er hat mich schließlich so geschaffen. Das Zittern meiner Hand ist kein Zeichen besonderer Heiligkeit.

Eine Gesellschaft, die mit Behinderung nicht umgehen kann, ist ebenso verkehrt wie ein Glaube, der nichts mit Gesundheit anzufangen weiß. Das Problem ist nicht, dass Gott uns schön, stark, klug gemacht hat. Das Problem ist, wenn wir nicht recht damit umgehen können. Nämlich so, dass es uns auch die anderen als schön, stark, klug erkennen lässt. Dagegen wendet sich Paulus an dieser Stelle seiner sogenannten „Narrenrede“. Er streitet gegen aufgeblasene „Wannabe-Weisheitslehrer“, die sich auf ihre religiösen Einsichten viel einbilden und damit über andere erheben. Eine religiöse Weisheit, die meint, andere zur unerleuchteten Masse machen zu müssen, ist gefährliche Dummheit. Auch wenn dieses Spiel bei frömmelnden Bekehrungs-Predigern immer wieder beliebt ist: „Ich aber sage Dir …“. Ein Spiel, das den Narzissmus des einen und den religiösen Masochismus der vielen bedient. Dagegen macht sich Paulus selbst zum Narren, um dieses Spiel zu durchkreuzen.

Die tiefere Einsicht des Paulus im Blick auf sein eigenes Leiden liegt darin, dass er durch seine Schwäche anderes verstanden hat. Eine Weisheit anderer Ordnung. Verluste können sehen lehren. Handicaps können einem die Augen öffnen. Sie müssen es aber nicht. Wie bei dem antiken Motiv des „blinden Sehers“. Auch Augenleiden schützen nicht vor Dummheit. Aber sie können (wie andere Leiden) manchen Menschen helfen, Zugang zu einer tieferen Schönheit, Weisheit, Stärke zu finden. Paulus half sein Leiden (was immer es auch gewesen sein mag) zu verstehen, dass Gott sich auf paradoxe Weise in Christus am Kreuz zeigt: als ein mitleidender Gott an der Seite der Starken und Schwachen, der Schönen und Hässlichen, der Frommen und Sünder. Auf dass wir einmal alle an seinem Tisch Platz nehmen werden, ob nun mit zitternden Händen oder welcher anderen Macke oder Stärke auch immer.

Gebet I: Heilige Blödheit

O Gott,
erbarme Dich meiner Klugheit
wie meiner Blödheit.
Meiner Schönheit
wie meiner Hässlichkeit.
Meiner Tugenden
wie meiner Laster.
Du hast es mit beiden nicht leicht.

Bewahre mich vor dem Irrglauben,
ich müsste klein werden,
um Dich groß zu machen.
Wie vor dem anderen Irrtum,
mein Licht leuchtete heller,
wenn ich andere in den Schatten stelle.

Lass mich teilhaben
an Deinem Reichtum,
der nicht abnimmt, wenn er gibt.
An Deiner Schönheit,
die aufblüht, wenn sie sich verschenkt.
An Deiner Stärke,
die den Schwachen neue Kraft verleiht. (TL)

Gebet II: Heiliges Zittern

Ach, Gott,
ich wäre gerne so
heilig, ruhig, abgeklärt,
ganz bei Dir und mir.
Wie die weite stille See
als Spiegel des
Himmels.

Doch ich zittere
wie eine kleine schlammige Pfütze
aufgewühlt von jedem banalen
Regen-Tropfen und vom festen Tritt
der dahinmarschierenden anderen.

Sei’s drum. Lass mich zittern
als Zeichen der Hoffnung auf
Dich. (TL)

Theologische Impulse 29, von Dr. Thorsten Latzel