Der Prophet auf der Palme. Glaube – Politik – Stadt

8.3.2019

Thorsten Latzel

Eines der, wie ich finde, witzigsten Bücher in der Bibel ist die Jona-Geschichte. Es ist zugleich eine Geschichte über ein Kerngeschäft von Theologie: die Vermittlung ...

Eines der, wie ich finde, witzigsten Bücher in der Bibel ist die Jona-Geschichte. Es ist zugleich eine Geschichte über ein Kerngeschäft von Theologie: die Vermittlung von Glaube, Politik und Stadt. Kuscheln Sie sich also bequem auf Kissen, Klappstuhl, Küchenbank. Ich erzähle Ihnen die Geschichte.

Da bekommt Jona von Gott den Auftrag, der Stadt Ninive das kommende Gericht Gottes anzusagen. Soweit so klar. So etwas gehört zum Stellenprofil, wenn man Prophet ist. Doch Jona haut ab, stracks in die andere Richtung.

Anstatt nach Ninive flieht er mit dem Schiff an den Rand der damals bekannten Welt nach Tarsis. Irgendwo hinter Honolulu.

Und Gott greift zum ersten Mal ein. Er schickt einen Sturm. Die heidnischen Seeleute rudern und schmeißen die Ladung über Bord und schreien in ihrer Not – ein jeder zu seinem Gott. Nur Jona liegt unten im Schiff und schläft.

Bis ihn der Schiffsherr weckt und ihn, den Propheten, auffordert zu seinem Gott zu beten: „Vielleicht kann er uns helfen“. Doch am Ende hilft all das Beten nichts. Da werfen die Seeleute das Los, wer an dem Unheil schuld sei.

Das Los trifft Jona. Alle Blicke zielen auf ihn. Und er erzählt ihnen seine Geschichte und die Geschichte seines Gottes. Des Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat. Und er fordert sie auf, ihn den Fremdling über Bord zu werfen. Das Boot ist schließlich voll. Also raus mit dem Fremden. Das kennt man. Doch noch einmal kämpfen und rudern und mühen sich die Heiden für ihn ab. Er ist schließlich ein Mensch – wie sie. Doch vergeblich. Am Ende müssen sie ihn über Bord werfen. Und das Meer wird still und lässt ab von seinem Wüten.

Da handelt Gott zum zweiten Mal. Diesmal schickt er einen großen Fisch. Der verschluckt Jona. Nicht so schön.

Drei Tage und drei Nächte ist Jona dort unter dem Meer, im Bauch des Fisches. Bei Magensäure und Kiemengeruch. Und jetzt, erst jetzt beginnt er zu beten, zu singen. Ein bewegendes Lied von dem Gott, der aus dem Tode rettet. Und der Fisch spuckt ihn ans Land. Da gibt Gott Jona erneut den Auftrag, Ninive den kommenden Untergang anzusagen. Und diesmal gehorcht er. Jona geht nach Ninive. Eine Stadt – drei Tagesreisen groß. Jona wandert lange durch die Stadt, einen ganzen Tag. Und dann, dann beginnt er zu predigen: gegen die Stadt und ihre Menschen und die Bosheit, die dort herrscht.
„Noch vierzig Tage, dann wird Ninive untergehen.“ Doch nun passiert das, was – paradoxerweise – vielleicht das Schwerste für einen Propheten überhaupt ist: Die Leute glauben ihm. Der König, die Bettler, die feinen Damen, die einfachen Mägde, selbst das Vieh: Sie alle fasten, tun Buße, gehen sprichwörtlich in Sack und Gasse. Buße, Umkehr, Lebens-Wandel: ein politischer Aufbruch, eine gesellschaftliche Revolution par excellence. Und Gott reut das angekündigte Unheil – und tut es nicht. Das macht Jona zornig: „Ich hab‘s doch gewusst, dass du wieder gnädig bist. Deswegen bin ich ja nach Tarsis geflohen. Mir reicht es.

Wie stehe ich denn jetzt da? Ach, wäre ich doch tot.“

Da handelt Gott zum dritten Mal. Er lässt für seinen depressiven Propheten eine Staude wachsen. Einen großen Strauch, sehr zur Freude von Jona, der in seinem Schatten eine Hütte baut und dasitzt und abwartet, was mit der Stadt geschieht. Der Prophet in seinem Schrebergarten auf Beobachtungsstation. Doch so wie Gott die Staude hat wachsen lassen, so lässt er sie am nächsten Tag wieder verdorren. Nicht sehr freundlich. Und Jona zürnt wieder bis an den Tod: „Ach, wäre ich doch tot.“

Da weist ihn Gott zu Recht: „Du beklagst die Staude, um die du dich nicht gemüht hast. Die in einer Nacht wächst und in der anderen dürr wird. Und ich sollte nicht Ninive beklagen, in der mehr als 100.000 Menschen leben, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“

Glaube – Politik – Stadt. Wie hängen die drei nun zusammen?

Der Glaube an Gott, an den Gott, der Himmel und Erde gemacht hat und vom Tode errettet, ist zum ersten keine Privatsache für fromm gestimmte Menschen. Keine religiöse Schrebergarten-Kultur. Kein Glück im Winkel für den Propheten unter der Palme, der so leicht auf die Palme geht. Gott jammert die ganze Stadt, nicht nur das Schicksal der Glaubenden, der Frommen, der Kirchenmitglieder. Sondern von Juden, Christen, Muslimen, Buddhisten, Hindus, Atheisten, Agnostikern, Zweiflern gleichermaßen. „Und die große Stadt mit ihren vielen hunderttausend Menschen, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere.“ Gott geht es ums Alle. Zu glauben, heißt daher immer, sich um die ganze Stadt zu sorgen.

Zum zweiten: Das Beten lernt der Prophet von den „Heiden“, von Menschen anderer Religion, die mit ihm im Boot sitzen: „Steh auf und bete. Vielleicht kann dein Gott uns helfen.“ Es ist schlicht die Größe der Not und die tiefe, menschliche Solidarität, die die Seeleute bewegt, sich gegenseitig in ihrem Glauben zu fordern: „Steh auf und bete. Vielleicht kann dein Gott uns helfen.“ Es war ein bewegender Moment, als Navid Kermani bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche vor ein paar Jahren von der Größe der Not der unter dem IS-Terror leidenden katholischen Ordensbrüder in Syrien berichtete. Zum Schluss seiner Rede forderte er als Muslim die Christen und alle anderen auf, für diese Menschen, unsere Glaubensbrüder, zu beten. Dann geht es nicht mehr darum, am Ende religiös Recht zu behalten. Sondern es geht darum, an der Seite anderer Menschen zu stehen und sich von Gott zum Heil der Welt bewegen zu lassen.

Und zum dritten: Ja, die Kultur der Stadt braucht Menschen, die den Mut haben, von ihrem Glauben zu reden. Sie braucht es, dass Einzelne aufstehen und zur Umkehr, zum Umdenken, zur Änderung unseres Lebenswandels aufrufen. Wie Jona. Damit „Ninive“ nicht untergeht, wenn wir in den vielen Krisen unserer Zeit mal wieder nicht wissen, wie es weitergeht. Wenn unser innerer Kompass wieder einmal verrücktspielt und wir die Orientierung dafür verloren, wo „rechts und links“, oben und unten ist. Worum es im Glauben an Gott und in der Liebe zum Nächsten geht. Solche Kassandra-Menschen sind oft anstrengend: Sie stören den Ablauf, sie nerven – eben, weil sie anderes sehen, denken, glauben. Doch wir brauchen sie. Ihren Mut aufzustehen und zur Umkehr zu rufen.

Was Stadt und Politik dagegen nicht brauchen, sind Unheilspropheten, die in ihre eigene Schreckensbotschaft verliebt sind – auch wenn sie noch so recht haben mögen. Menschen, die mit ihren Ansagen Recht behalten wollen – und koste es das Leben der Stadt. Zur Buße im evangelischen Sinn gehört immer auch die Bereitschaft, sich selbst von der unbegreiflichen Liebe Gottes überraschen zu lassen.

Glaube – Politik – Stadt

Bleibt zum Schluss die Frage, was Jona entdeckte, als er einen Tag durch Ninive ging. Sah er nur Sünden, Laster, Verfall und Untergang? Ein großes Sodom und Gomorrha. Oder hatte er auch Augen für die besonderen Orte des religiösen Aufbruchs und des kulturellen Wandels? Für die Wüsten der Stadt, in denen die Menschen in sich gehen, zur Besinnung kommen, umkehren – wie einst in der Wüste Sinai. Für die Berge der Stadt, auf denen Gott sich Menschen zeigt, sie seine Gebote lehrt, der Himmel offen steht – wie einst am Berg Horeb. Für die stillen Orte der Stadt, an denen sich auf wundersame Weise neues Leben ereignet – wie einst am See Genezareth. Es ist ein anderer Blick auf dieselbe Stadt, wenn man beginnt nach solchen Orten religiösen Aufbruchs und politischen Wandels zu schauen.

Schenke Gott uns offene Augen, um solche Orte zu entdecken – in Ninive, Frankfurt, Tarsis oder wo immer er uns hinführt.

Theologische Impulse 9, von Dr. Thorsten Latzel