Der zweite Schlaf oder: Von doofer Depression und weiser Melancholie

17.11.2019

Thorsten Latzel

Nur noch schlafen Vielleicht kennen Sie auch dieses Gefühl: Müde zu sein, unendlich müde. Nur noch schlafen wollen, Ruhe haben und am liebsten gar nicht wieder ...

Nur noch schlafen

Vielleicht kennen Sie auch dieses Gefühl: Müde zu sein, unendlich müde. Nur noch schlafen wollen, Ruhe haben und am liebsten gar nicht wieder aufstehen. Selbst die kleinen Dinge des Alltages werden zur riesigen Last. Als Schatten meiner selbst rettet man sich gerade so über die Runden. Am besten, wenn alles vorbei wäre. Einfach nicht mehr aufwachen. Der unausgesprochene Wunsch nach dem Tod als Schlafes Bruder.

Rein körperlich ist alles in Ordnung, zumindest keine so schwere Krankheit, mit der man die eigene Schlaffheit entschuldigen könnte. Es fehlt einfach die Antriebskraft, der Elan, die Lebensfreude. Das Leben steckt in einer Sackgasse, die Seele ist krank, man will nicht mehr.

Vor allem sozial ausgerichtete, sensible, leistungsfähige Menschen kennen dieses Gefühl. Menschen, die mit dem Druck von außen und den hohen Ansprüchen an sich selbst nicht mehr zurechtkommen. In einer an Leistung, Konsum, Erleben orientierten Gesellschaft haben solche Erfahrungen keinen Platz. Doch Depressionen sind längst zur Volkskrankheit, zu einer regelrechten Epidemie geworden. Die Angst zu versagen, das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, das Verzweifeln am eigenen Ich prägt das Leben von mehr Menschen, als man es zunächst annimmt. Schätzungen gehen davon aus, dass jede/r fünfte Bundesbürger/in wenigstens einmal in seinem oder ihrem Leben eine behandlungsbedürftige Depression erleidet.

In der Wüste unterm Dornstrauch

Die zu Grunde liegende Erfahrung ist dabei uralt. Die Bibel berichtet häufiger von Menschen, die am Leben verzweifeln, innerlich zerbrechen, den Tag verfluchen, da sie auf die Welt kamen, die einfach nur noch sterben wollen. Und es sind nicht irgendwelche Randfiguren, von denen das erzählt wird, sondern gerade die Hauptpersonen der biblischen Geschichte. Hiob sowieso, Jeremia in seinen Klagen, viele schwermütige Gebete in den Psalmen, Hagars Verzweiflung in der Wüste, Jakob auf seinem verwickelten Lebensweg von Bethel übern Jabbok bis nach Ägypten.

Oder etwa Elia, eine der ganz großen Gestalten des Alten Testamentes, eine Mischung aus Wundertäter, Prophet, Prototyp des Messias. Von niemandem sonst – außer vielleicht noch von Moses – werden so große Taten erzählt: Elia verkündet eine mehrjährige Dürre, er erweckt ein totes Kind wieder zum Leben, er richtet über Könige, am Ende seines Lebens wird er sogar in einem feurigen Wagen in den Himmel entrückt. Seine Wiederkunft wird im Judentum für die Endzeit erwartet; manche Zeitgenossen halten Jesus selbst für den wiedergekommenen Elia.

Und dieser Elia, der machtvolle Streiter für Jahwe als dem alleinigen Gott Israels, wird depressiv.

Eben noch hat er – für uns nur schwer einsehbar – 450 Propheten des kanaanäischen Gottes Baal nach einer Art Götterwettstreit auf dem Berg Karmel blutig hingerichtet. Nun liegt er selbst in der Wüste unter dem Dornstrauch und will nur noch sterben.

„Und Ahab (der König Israels) sagte (seiner Frau) Isebel alles, was Elia gemacht hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: ‚Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!‘

Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort. Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Dornstrauch und wünschte sich zu sterben und sprach: ‚Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter.‘ Und er legte sich hin und schlief unter dem Dornstrauch.

Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: ‚Steh auf und iss!‘ Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des HERRN kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: ‚Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.‘ Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.“

Die Geschichte des lebensmüden Elia hat viele Menschen in späteren Zeiten inspiriert. Etwa den niederländischen Maler Dirk Bouts, der in der zweiten Hälfte des 15. Jh. die Speisung des Elia auf dem Flügel eines Altarbildes dargestellt hat (heute in der Schatzkammer der Kirche Sint Pieter in Löwen, abgebildet u.a. im Wikipedia-Artikel „Abendmahlsaltar_(Dirk_Bouts)“). Es zeigt Elia mitten in seiner Depression. Erschöpft und ohne Lebenswillen liegt er am Wegesrand. Von der Königin Isebel, einer Anhängerin des Baalskultes, verfolgt, hat er sich in die Wüste geflüchtet – auf dem Bild dargestellt als öde, karge Felsenlandschaft.
An Stelle des Dornstrauchs ist ein vereinzelter Baum zu sehen. Sein Stock liegt achtlos hingeworfen mitten auf dem Weg. Er selbst hat sich in seinen roten Mantel gehüllt. Den Kopf aufgestützt, die Augen geschlossen, will er nur noch schlafen und sterben. Die Geschichte einer verzweifelten Flucht, einer Lebenskrise, einer tiefen Depression.

Der zweite Schlaf

Doch Geschichte und Bild bleiben dabei nicht stehen. Es ist nicht nur die Geschichte von einer Depression, sondern auch von einer besonderen Hilfe. „Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss!“ Eine leichte Berührung, etwas Wasser und Brot, die Aufforderung, aufzustehen und zu essen. Mehr sagt und tut der Engel nicht. Kein Zerren und Wachrütteln, keine Moralpredigt und keine klugen Ratschläge. Das zeichnet den Engel als Boten Gottes aus: dass er weiß, mit den Müden zur rechten Zeit zu reden; dass er das „andre stärkt, das sterben will“ (Offb 3,2). Und Elia steht auf und isst – und legt sich wieder hin.

Das ist wohl das Überraschendste an der Geschichte, dass das große Wunder ausbleibt, dass selbst der Engel Elia nicht einfach so wieder auf die Beine kriegt. Es gibt Zeiten im Leben von Menschen, da haben auch die Engel kein himmlisches Machtwort zur Verfügung, dass alle Sorgen, Zweifel und Ängste einfach verscheucht. In solchen Stunden geht es um Überlebenshilfe in elementarster Form: Brot, Wasser und Weiter-schlafen-lassen.

Die Alten wussten um das Geheimnis des zweiten Schlafes. Wenn man mitten in der Nacht wach wird, nicht wieder einschlafen kann und man mit der Leere, der Verzweiflung, den Dämonen in einem selbst klarkommen muss. Dann braucht es danach Zeit für den zweiten Schlaf.

„Und der Engel des HERRN kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“

Erst jetzt, im zweiten Anlauf gelingt es, Elia wiederaufzurichten. Noch einmal stärkt der Engel ihn für die Aufgabe, die vor ihm liegt. Doch auch diesmal bleibt die Mahnung, sich nun aber endlich einmal auf den Weg zu machen, aus. Das Gemälde von Bouts zeigt den Moment des Aufweckens unmittelbar vor der Speisung. Ein weiß gekleideter, weiblicher Engel beugt sich über Elia, berührt sanft mit der Hand dessen Schulter. Links neben Elias Kopf kann man Brot und Wasserkrug erkennen. Das strahlende Weiß des Gewandes, die Haltung des Engels, die liebevolle Pflege – sie erinnern an eine Krankenschwester. Eine verletzte Seele wird hier versorgt, himmlische erste Hilfe für einen, der an sich selbst, am Leben krankt. Notversorgung in Zeiten, wenn einem die Seele zerreißt. „Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor dir.“

Verwandlung in weise Melancholie

Oben rechts auf dem Bild sieht man Elia dann noch einmal. Perspektivisch verkleinert hat der Künstler seinen weiteren Weg mit in die Darstellung hineingenommen. Elia, deutlich wiederzuerkennen am leuchtenden Rot seines Mantels, hält den Wanderstab jetzt in der Hand und schreitet energisch voran.

„Er ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb“, heißt es in der Geschichte.

Das Ziel seiner Wanderung, der Gottesberg, ist schon am Ende des Weges zu sehen. Dort wird Elia Gott selbst begegnen. Gott wird sich ihm zeigen – nicht im mächtigen Sturm, nicht im erschütternden Erdbeben und nicht im verzehrenden Feuer, sondern im leisen Säuseln eines Windes. Beides gehört wohl zusammen:

– erschöpft in der Wüste unter dem Dornstrauch liegen und hinauf auf den Gottesberg steigen,
– am eigenen Leben verzweifeln und sich von einem Engel speisen lassen,
– keine Luft mehr zum Atmen zu haben und in einem feurigen Wagen gen Himmel zu fahren.

Und vielleicht kann nur der Gott im stillen Wehen eines Windes begegnen, der die Flauten des eigenen Lebens durchlitten hat. Es ist die Verwandlung von „doofer Depression“ in „weise Melancholie“. Eine schmerzgeborene Weisheit, die einem – so es Gott gefällt – in Zeiten des zweiten Schlafes zu Teil werden kann.

Theologische Impulse 40, von Dr. Thorsten Latzel