Die fremden Witwen oder: Von der Liebe in Zeiten des Alltags

5.7.2019

Thorsten Latzel

Die Liebe zum Nächsten oder gar zum Fremden ist eine tolle Sache. Wenn es da den Alltag nicht gäbe. Steuererklärung, Wohnung aufräumen, das Auto zum ...

Die Liebe zum Nächsten oder gar zum Fremden ist eine tolle Sache. Wenn es da den Alltag nicht gäbe. Steuererklärung, Wohnung aufräumen, das Auto zum TÜV. Die Kinder zum Kunstkurs, Kieferorthopäden, Klassenausflug. Bei der Arbeit drücken Termine. Dann wird es mit der Nächsten-Liebe schon mal schwieriger. Zumal es so viele davon gibt. Allein 750.000 in Frankfurt. Weltweit über 7,5 Milliarden. Und alle so verschieden. Da bleibt man am besten unter sich. Oder um es mit Methusalix zu sagen: „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier.“ Der Alltag als Liebestöter. Nicht nur der erotischen.

Bei den biblischen Geschichten, etwa der vom barmherzigen Samariter, ist das ja noch alles schön übersichtlich. Ein einziger Schwerverletzter am Wegesrand. Noch dazu in einer offensichtlichen Notsituation. Es wäre schlicht unterlassene Hilfeleistung, hier nicht einzugreifen. § 323c StGB: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten […] ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ Die besondere Pointe bei der Geschichte vom Samariter liegt aber in etwas Anderem. Nämlich im Perspektivwechsel: nicht der Andere ist der Nächste, sondern ich werde zum Nächsten – wenn ich mich vom Leid des Anderen berühren lasse. Die Liebe als eine Bewegung der Freiheit, dem Anderen ein Nächster zu werden. Eine Freiheit, in der ich als Helfender selbst die unbedingte Nähe Gottes erfahre. In der Liebe zum Nächsten gewinnt die Freiheit allererst ihre Gestalt.

Doch auch damit ist die Sache nicht so einfach. Das zeigen andere Geschichten von den ersten Christen. Lukas etwa zeichnet in der Apostelgeschichte zunächst ein paradiesisches Idealbild des Anfangs. „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele. Auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. … Und es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte.“ (Apostelgeschichte 4,32.43) Ach, wie schön! Selbst wenn man mal von dem kleinen tödlichen Zwischenfall mit Hananias und Saphira absieht, die vom Teilen nicht ganz so viel hielten und eher zu einem Modell von Privatbesitz mit volkskirchlicher Spendenpraxis und kleinem Steuerbetrug neigten. Gerade mal ein Kapitel dauert es – und schon knarzt es bedenklich im urgemeindlichen Gebälk. Oder besser gesagt: Es „murrt“ in Teilen der Gemeinde. „Murren“ – ein herrlich altes Wort dafür, wenn es mit der Freiheit nicht so läuft, wie man es sich gewünscht.

Da ist dann zu lesen: „In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.“ Die Witwen waren damals auf die soziale Hilfe anderer angewiesen. Sie fielen heraus aus der Versorgung durch ihren Mann. Und wegen ihres Christusglaubens auch aus der Versorgung durch die jüdische Gemeinde. Es sind die „fremden Witwen“, die Armen, die durch alle Raster fallen, an denen sich die Praxis gelebten Glaubens entscheidet. Doch: Wie kann das eigentlich sein, dass man in der ersten Gemeinde einige einfach so übersieht? Bei so viel Herz und Seele? „Oh, hoppla, ein Versehen? Eine kleine Vergesslichkeit? Es wurden ja schließlich immer mehr?“ Seltsam. Es hieß doch: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann und Frau.“ (Gal 3,28) Sie waren doch auch Christinnen. Wie die anderen. Und auch Jüdinnen. Nur kamen sie wohl nicht aus Palästina. Und sie sprachen wohl nicht Hebräisch, sondern Griechisch. Und sie hatten in Jerusalem keine besonderen Netzwerke in der Großfamilie. Doch auch dies alles erklärt noch nicht, warum gerade sie bei der Versorgung nichts abbekamen.

Der eigentliche Grund ist wohl ein anderer. Einer, der von Lukas kaschiert wird, weil er nicht recht hineinpasst in das harmonisierte Bild des Anfangs. Es gab – wahrscheinlich – schon am Anfang nicht nur eine, sondern mehrere Gemeinden. Es gab eine eigene Gemeinde griechisch sprechender Judenchristen. Eine Gemeinde mit einer anderen theologischen Haltung zu Beschneidung und Gesetz. Und mit einer eigenen Leitungsstruktur: den sieben Männer, die Lukas dann als Armenpfleger bezeichnet und den Zwölfen unterstellt. Aber sie treten im Folgenden mehr als Prediger auf. Und nur sie fallen offensichtlich unter die Verfolgung und müssen aus Jerusalem fliehen. Damit bekommt die Sache mit der Nächstenliebe einen besonderen Dreh. Auch für die Frage, wie wir mit den „fremden Witwen“ unserer Zeit umgehen. Mit den alten Menschen, die eine andere Sprache sprechen und aus einem anderen Land kommen. Die hier keine besonderen familiären Netzwerke haben. Die zu einer anderen Gemeinde gehören, aber eben auch Christen sind. Und wie gehen wir um mit den „fremden Witwen“ von Menschen aus anderen Religionen?

Fünf unfertige Thesen

1. Im Glauben geht es nicht darum, wie wir mit unseren Nächsten umgehen, sondern darum dem Anderen ein Nächster zu werden.
Es geht im Glauben um einen Prozess, der uns selbst verändert. Gott kommt uns in Jesus Christus unbedingt nah. Das führt uns dazu, dem bzw. der Anderen nahe zu kommen, ein Nächster zu werden.

2. Es ist gefährlich, wenn die Sorge um das Essen und die Sorge um die Seele voneinander getrennt werden.
Ich glaube, dass es in der Geschichte der Kirche allzu oft eine aseptisch blutarme Theologie gab und gibt, in der die Sorge um das Brot keine Rolle spielt. Und ich glaube, dass es unserem diakonischen Engagement nicht guttut, wenn es sich nicht selbst aus einem geistlichen Leben speist.

3. Die Liebe zum Nächsten zeigt sich am Umgang mit den „fremden Witwen“ – und im Umgang mit den „eigenen“.
Beides ist eine Herausforderung eigener Art. Manchmal fällt es fast leichter, die zu lieben, die einem nicht so nahe sind. Andersherum fallen die fremden Witwen leichter durchs Raster. Wichtig ist, dass beide, die fremden und die nahen Witwen, Menschen mit Rechten sind – und nicht Objekte, die auf Erbarmen angewiesen sein müssen.

4. Die Liebe braucht Ordnungen, um verlässlich zu sein und sich nicht zu erschöpfen. Und sie ist ein Störenfried von Ordnungen, wenn diese nicht dem Menschen dienen.
Ein Problem der Nächstenliebe ist ja, dass auf einmal das Leid der ganzen Welt schon morgens früh neben dem Brötchenteller liegt – und mir allzu nahe rückt. Wenn man alle 7,5 Milliarden lieben soll, wird man entweder wahnsinnig oder lässt die Sache sein. Deshalb sind Ordnungen gut und notwendig, um sich zu konzentrieren, um verlässlich zu sein, um Liebe konkret leben zu können. Aber die Liebe ist zugleich auch immer ein Störenfried unserer Ordnungen und lässt sich in ihrem Anspruch nicht begrenzen – nicht national, ethisch, politisch, konfessionell oder weltanschaulich.

5. Lieben heißt, sich in den eigenen Lebenskreisen immer wieder von Gott und dem Mitmenschen in nutzloser Weise stören zu lassen.
Die Herausforderungen der Liebe kommen meist unangemeldet. Sie stehen nicht im Kalender oder auf der To-do-Liste. Und sie werden, aller frommen Haltung zum Trotz, leicht übersehen. Wie bei den fremden Witwen. Und vor allem rechnet sich die Liebe nicht. Doch gerade in ihrer ökonomischen Nutzlosigkeit ist sie wichtig, lebenswichtig. Deswegen braucht es Zeiten für konstruktive Liebesirritation. Wie etwa das Hören auf die alten Geschichten von den Irrungen und Wirrungen in der Liebespraxis der ersten Christen.

Theologische Impulse 26, von Dr. Thorsten Latzel