„Frí-da! Júu-hu! Where is the cat?“ Von morgendlichen Suchfragen

23.8.2019

Thorsten Latzel

Unsere englischsprachigen Nachbarn haben eine Katze. Frida. Benannt nach der berühmten Malerin, wegen ihres künstlerisch gefleckten Gesichts. Jeder Morgen beginnt, wie in einem festen Ritual, ...

Unsere englischsprachigen Nachbarn haben eine Katze. Frida. Benannt nach der berühmten Malerin, wegen ihres künstlerisch gefleckten Gesichts. Jeder Morgen beginnt, wie in einem festen Ritual, mit dem nachbarschaftlichen Suchruf nach der Katze: „Frí-da! Júu-hu! Where is the cat?“ Und Frida kehrt – mal später, mal früher, in katzenhaft nonchalanter Eleganz, nach nächtlichen Streifzügen durch die nachbarschaftlichen Gärten – zurück in die Wohnung. Eine Geheimnisträgerin verborgener Abenteuer, die sie auch bei intensivem Kraulen nicht preisgibt. Eine freie Heldin ihres eigenen Lebens.

„Frí-da! Júu-hu! Where is the cat?“ In dem morgendlichen Suchruf klingt etwas an von einer der ersten Fragen in der Bibel überhaupt – der Frage, mit der die Geschichte Gottes mit dem Menschen überhaupt beginnt: „Adam, wo bist du?“ (1. Mose 3,9) Der fürsorgliche Ruf des Schöpfers nach seinem Geschöpf. „Mensch, wo bist du?“ (hebräisch ādām = Mensch). Auch als Menschen sind wir freie Helden unseres eigenen Lebens. Nur sind wir anders als Frida gleich auf zweifache Weise nackt: körperlich und metaphysisch. Wir haben nicht nur kein Fell, sondern wir wissen auch darum, dass wir keines haben. Die nonchalante Eleganz müssen wir uns als Menschen erst durch Kleidung und Kultur wieder mühsam erwerben.

„Mensch, wo bist du?“ Die Frage zielt in der Geschichte wie in ihrer vielfältigen späteren Rezeption auf mehr als eine lokale Ortsangabe. Es geht um den existentiellen Ort, an dem ich mich befinde, seit ich aus meiner schlafenden Unschuld herausgetreten bin. Meinen Ort im Leben. Meine Heimat, die ich niemals wirklich habe, sondern nur als Verlust spüre und immer wieder neu ersehne. Daher antwortet Adam, der Mensch, in der Geschichte auch nicht mit: „Hier hinten im Gebüsch hinter dem Apfelbaum“, oder der Angabe seiner Kontaktadresse. Sondern er spricht von dem, was er wahrnimmt, was er fühlt, was er erkennt und was er tut: „Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“ Der Mensch, nackt, furchtsam, zurückgeworfen auf sich selbst. Er hat den Garten Eden längst verlassen, ehe Gott ihn daraus verweist. Nur eine Geschichte bzw. eine Generation später und die Frage an den – inzwischen von Gott bekleideten – Menschen wird sich wandeln: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Wenn ich selbst nach meinem Platz unter der Sonne suche, wird der andere leicht zur schattigen Konkurrenz. Der Verlust von Selbstgewissheit und Sozialität gehen Hand in Hand.

Ein älterer Pfarrer hat früher einmal zu mir gesagt, man solle am Tag eine Stunde vor Gott darüber nachdenken, wo man stehe, was man tue und was man lieber lassen solle. Das schütze vor viel Unsinn und unnötigem Leid. Eine Stunde am Tag sich im Angesicht der Liebe Gottes die Frage stellen: Wo bin ich? Wo ist meine Schwester, mein Bruder? Und wo will eigentlich hin? Das schützt auch vor habitualisierten Reiz-Reaktions-Mustern, mit denen ich auf jedes digitale Fiepen reagiere: Nur kurz aufs Handy schauen, Mails und Nachrichten checken, die Chronik runterscrollen. Stille-Vermeidungs-Strategien, um sich mit den eigentlichen Fragen der eigenen Existenz nicht auseinandersetzen zu müssen: „Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.“ (Goethe, Die Leiden des jungen Werthers). Die Alternative dazu: Stille einüben. Ein Schritt zur Seite. Cut, break, Innehalten: Where is the cat? Wo bin ich? Wo sind die anderen? Und wo will ich eigentlich hin? Um wirklich ein freier Held meines eigenen Lebens zu sein, ist es gut, mich vor kopfloser Selbstverzettelung zu schützen. Irgendeine „Nachricht“ wartet immer irgendwo. Und „breaking news“ sind in aller Regel eher Ausdruck einer medialen Inkontinenz: der mangelnden Fähigkeit einen Moment innezuhalten, um zwischen Dringlichem und Wichtigem zu unterscheiden.In der morgendlichen Suchfrage nach sich selbst und seinen Nächsten spiegelt sich etwas von der geistigen Haltung, welche antike Philosophen als „Epoché“ bezeichnet haben, als Zurückhaltung des eigenen Meinens und Urteilens. In der Tradition christlicher Frömmigkeit wird es als Stille Zeit oder Morgengebet eingeübt.

Sich am Morgen vor den anstehenden Aufgaben geistlich verorten. Vor Gott darüber nachdenken, wo ich bin, wo meine Geschwister sind und was ich tue. Im Akt des Betens erfahre ich mich auf paradoxe Weise aktiv und passiv zugleich. Ich bin höchst präsent und aktiv, indem ich gerade nichts tue, mich von allen anderen Einflüssen freimache und stattdessen von Gott her bestimmen lasse. Von Mutter Theresa gibt es die schöne Anekdote, dass sie auf die Frage eines Journalisten, wie sie zu Gott bete, antwortete: „Ich rede eigentlich weniger und höre mehr Gott zu.“ „Und“, hakte der Journalist nach, „was sagt Gott dann zu ihnen?“ „Er redet auch eigentlich weniger und hört mehr mir zu.“ Die Kunst, sich selbst zu verorten, indem man die Stille vor Gott aushält.

Fragenwechsel

Ich werde gefragt,
ständig gefragt:
wie‘s mir geht,
was ich möchte,
was es Neues gibt.
Ich frage mich,
immer wieder:
ob‘s das war,
was noch kommt,
was das soll.
Doch wenn es still wird,
bin ich selbst gefragt:
Wo bist du?
Wo ist dein Bruder?
Was hast du getan und wirst du tun? (TL)

Wo bist du?

Das fragst du mich, Gott, allen Ernstes?
Wer hat mich denn gemacht?
Hier bin ich vor Dir.
„Eine Blume auf dem Felde.“
Wenn’s hochkommt,
oft eher Distel.
„Nicht besser als meine Mütter oder Väter.“
Versuche leidlich klar zu kommen
mit mir, den anderen, dem Leben.
„Weiß weder Anfang noch Ende.“
Kenn nicht mal mein eigenes Herz.
Bin halt so da, und ohne so recht zu wissen,
warum, wohin, wozu.
Bemüh mich, das Beste draus zu machen.
Mit wechselndem Erfolg.
Hier vor Dir.
Doch wo bist du? (TL)

Theologische Impulse 33, von Dr. Thorsten Latzel