Gott in der Krise – Wege in der Wüste

15.12.2019

Thorsten Latzel

Versuch, Gott zu verstehen (Adventspsalm) Gott, ich gestehe, dass ich nicht verstehe. Dass ich dich nicht verstehe. Warum bist Du Mensch geworden? Ausgerechnet Mensch! War das wirklich klug? Auf ...

Versuch, Gott zu verstehen (Adventspsalm)

Gott, ich gestehe, dass ich nicht verstehe.
Dass ich dich nicht verstehe.

Warum bist Du Mensch geworden? Ausgerechnet Mensch!
War das wirklich klug?

Auf uns zu setzen, uns zu deinen Wegbereitern zu machen?
Die Sache mit uns ist schiefgelaufen. Immer wieder. Von Anfang.

Dein Gärtner in Eden hat sich schon bald als globaler Bock erwiesen.
Wir bauen Türme bis zum Himmel, um uns einen Namen zu machen.
Und übersehen die Leute, die in den Hütten ringsum hungern.

Ja, du hast uns wenig niedriger gemacht als Dich selbst.
„Alles hast du unter unsere Füße getan. Schafe und Rinder allzumal.“

Aber ob sie darüber so froh sind – das weiß ich nicht.
Früher oder später landen sie alle in der Pfanne.

Dünn ist die salzige Kruste Moral, die uns davon abhält, selbst einander den Schädel einzuschlagen.
Sehr dünn. Es ist nicht besser geworden.

Doch du bist unverbesserlich in deiner Liebe zu uns.
Können wir Dir wirklich den Weg bereiten?

Wir wissen, wie es gehen könnte. Vielleicht. Prinzipiell.
Aber wir bekommen es nicht hin. Beim besten Willen nicht.

Noch ein Versuch (Adventspsalm)

Gott, ich gestehe, dass ich nicht verstehe.
Dass ich dich nicht verstehe.

Was bist Du für ein Gott, dass Du einen Weg gehst?
Und Dich abhängig machst von der Vorbereitung anderer?

Allmächtig, ewig, vollkommen – so stellen wir uns Gott vor.
Doch Du? Kommst als Mensch, als Säugling, als einer unter Milliarden.

Du bist unbegreiflich – in deiner allmächtigen Verletzlichkeit,
Deiner vollkommenen Bedürftigkeit, Deiner göttlichen Blöße.

Es ist, offen gesagt, nicht ganz einfach an Dich zu glauben,
sich allein auf Dich zu verlassen:

auf Deine Kraft in den Schwachen, auf Dein Schaffen aus dem Nichts,
auf Deine Liebe über den Tod hinaus.

Das ist nicht einfach zu glauben: ohne Wunder und Beweise.
Du bist eben immer so unsichtbar.

Wie können wir Dir den Weg bereiten? Dein Wort ist uns fremd.
Deine Wege verborgen, Deine Weisheit eine Torheit und Ärgernis.

Jesaja 40,3-5

„Es ruft eine Stimme: ‚In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg,
macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!
Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden,
und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden;
denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden,
und alles Fleisch miteinander wird es sehen;
denn des HERRN Mund hat’s geredet.‘“

Seine Texte gehören zum theologisch mutigsten und stärksten, was es im reichen Schatz des Alten Testamentes überhaupt gibt. Und ihnen ist so ungefähr das Schlimmste passiert, was einem in der Kirche überhaupt zustoßen kann: sie kamen in den Schredder religiöser Wohlfühl-Weisheiten und wurden zum Steinbruch für Konfirmations- und Kalendersprüche. Was für ein Verlust! Vor allem für uns.

Denn es gibt nicht viele von ihnen: starke Theologien der Krise, die da anfangen, wo alles ins Wanken kommt. Wo Staaten zusammenbrechen, ganze Völker umherirren und der Glaube den Halt verliert.

Wir schreiben etwa das Jahr 550 vor Christus. Das Volk Israel, das Königreich Juda ist am Ende. Und mit ihm seine ganze schöne Wohlstands-Theologie der letzten 500 Jahre:

– Der Tempel, der Sitz Gottes auf Erden, mit samt der Hauptstadt Jerusalem: zerstört.
– Das Heilige Land, die große Verheißung Gottes seit der Zeit der Erzväter: vom Feind verwüstet.
– Der König, Nachfolger auf dem ewigen Thron Davids: mit der ganzen Oberschicht in Babylon im Exil.

Dass dem Nordreich, dem Bruderstaat, das passiert war: o.k. Das falsche System. Aber einem selbst? Dem Ort und Hort des einen heiligen Gottes?

Der interreligiöse Dialog war damals etwas schlichter angelegt als heute: Wer gewann, hatte den stärkeren Gott. Das Volk Israel hatte verloren. Und was war nun mit ihrem Gott? Dieser eigenartige Gott ohne Bild und mit unsagbarem Namen? Das Exil Israels war die radikale Krise Gottes.

In dieser Zeit steht ein Unbekannter auf. Ein echter Anonymus. Von ihm wissen wir eigentlich nichts, gar nichts: War er allein oder Teil einer Gruppe? Ein Prophet, Priester, Poet? Vielleicht am ehesten ein Pirat: ein Freibeuter des Heiligen Geistes, der gedanklich bis ans Ende geht – und ein gutes Stück darüber hinaus. In der Forschung nennt man ihn später Deuterojesaja – ein Name, den sich auch nur Theologen ausdenken können. Er steht auf, bricht mit der gesamten kaputten theologischen Tradition und fängt in seiner Rede von Gott noch einmal ganz neu an.

Dazu verhöhnt er erst einmal die vermeintlichen Siegesgötter, die Götzen der Herrschenden, die Mächte der Krise, indem er mit spitzer Feder den menschlich – allzu-menschlichen Produktionsprozess dieser Götter karikiert. Killing idols.

„Einer will dem andern helfen und spricht zu seinem Nächsten: ‚Steh fest!‘ Der Meister nimmt den Goldschmied fest an die Hand, und sie machen mit dem Hammer das Blech glatt auf dem Amboss und sprechen: ‚Das wird fein stehen!‘ und machen’s fest mit Nägeln, dass es nicht wackeln soll.“ (Jes 41,6f.)

Doch was der Mensch stützt und festmacht, das kann ihm selbst keinen Halt geben. So einfach ist das.

„Der Zimmermann verbrennt die eine Hälfte im Feuer, auf ihr brät er Fleisch und wärmt sich auch. Aber die andere Hälfte macht er zum Gott, dass es sein Götze sei, vor dem er niederfällt und betet und spricht: Errette mich, denn du bist mein Gott!“ (Jes 44,16f.)

Was der Mensch entfacht, das kann seine Seele nicht hell machen.

„Wer Asche hütet, den hat sein Herz getäuscht. […] Ist das nicht Trug, woran unsere Rechte sich hält?“ (Jes 44,20)

Und weil die Götzen theologisch nicht satisfaktionsfähig sind, fordert er an ihrer Stelle die Völker zum Rechtsstreit mit Gott heraus. Mit ihnen streitet er, wer denn nun die Macht auf Erden hat: der Gott Israels, der Schöpfer des Himmels und der Erde, oder die herrschende Siegermacht, die politisch gerade das Sagen hat. Und er wagt dabei einen Blick tief hinein in die dunkle Seite Gottes:

„Ich bin der HERR, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der HERR, der dies alles tut.“ (Jes 45,6f.)

Gott ist es, so der unbekannte Prophet, der allein in die Krise führt und aus ihr heraus. Er schafft Licht – und Finsternis. Das ist die dunkle Kehrseite seines unbedingten Zuspruchs: Gott kann retten aus Not, Tod, Elend, eben weil auch das Unheil letztlich von ihm ist. Eine Aussage, die Philosoph/innen und Theolog/innen als Frage nach der Rechtfertigung Gottes (Theodizee) seitdem immer weiter beschäftigt hat: hier mitten in der radikalen Krise des Volkes Israels hat sie eine zutiefst tröstende Funktion.

Und das eigene Volk ruft er zum Zeugen an, als einen blinden und tauben Zeugen. Einen Zeugen, der nichts begriffen hat von dem, was Gott getan hat. Aber Gott wird ein Neues tun, so dass man an das Alte nicht mehr denken wird. Er wird sein Volk neu aus der Sklaverei führen, eine neue Schöpfung machen, einen neuen ewigen Bund des Friedens eingehen.

Er beginnt regelrecht zu singen – von einer Revolution Gottes, die alle Unterdrückung und alles Leid beendet, einem Heil, das die ganze Schöpfung erfasst: Die Wüsten werden zur grünen Wiesen, die Berge jubeln und klatschen in die Hände, die Hügel werden erniedrigt und die Täler erhöht. Himmel und Erde setzt Gott in Bewegung, damit sein Volk auf heilsamer Bahn dahinzieht. In immer neuen Bilder erzählt er von Gottes Trost für sein verängstigtes Volk, einem Trost, den nichts, wirklich nichts aufzuhalten vermag.

Und er fängt an, auf ganz eigentümliche Art von einem Knecht Gottes zu erzählen. Einem Auserwählten und Ausgestoßenen, von einem, der das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird, der seinen Rücken hinhält, das Leiden trägt, bis er selbst das Licht der Heiden und das Heil der Welt wird.

Er singt sich theologisch wahrhaft um Kopf und Kragen. Lehnt sich mit einer Hoffnung aus dem Fenster, die weit, weit über alles hinausgeht, was für die Menschen in der Zeit überhaupt erfahrbar und vorstellbar ist. Und genau darin ist die Krisentheologie dieses Anonymus im tiefsten Sinne adventlich. Sie ist Wegbereiterin des fremden, heilsamen Gottes mitten in der Wüste.

„Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.“ (Jes 55,8-12)

Darum geht es geistlich im Advent:
In der Wüste, mitten in Zeiten der Krise einen Weg zu bereiten,
sich theologisch um Kopf und Kragen zu singen,
im Vertrauen darauf, dass Gott einmal alles Leid, Unrecht und Gewalt verwandeln wird,
bis die Berge vor Freude hüpfen und die Bäume in die Hände klatschen werden.

Theologische Impulse 44, von Dr. Thorsten Latzel