Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10) gehört zu den bekanntesten Geschichten der Bibel.
Es ist Leitbild für ein soziales Miteinander, für tätige Nächstenliebe, für Diakonie und Caritas. Und es ist zugleich eine der heftigsten Bußgeschichten der Bibel. In ihr bekommen sie alle ihr Fett ab: die Schriftgelehrten, Priester und Leviten. Und mit ihnen all die religiösen Würdenträger in ihren heiligen Gewändern, ihrer emsigen Geschäftigkeit und theologischen Gelehrtheit. Die Präsides und Bischöfe, die Pfarrerinnen und Priester, die Frommen, Religiösen und Spirituellen. Eine einzige Geschichte – mit der Jesus den Glauben einmal komplett vom Kopf auf die Füße stellt. Eine Geschichte, in der es um Leben und Tod geht. Um ewiges Leben und sehr irdischen Tod. Um vorbildliche Fremde und versagende Eliten, um den fundamentalen Wechsel von Fragen, Perspektiven und Lebenseinstellungen. Eben um Buße.
Auslöser des Ganzen ist die Frage eines klugen, belesenen, frommen Menschen an Jesus. Nicht irgendeine. Sondern vielleicht die religiöse Frage schlechthin: Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Wie bin ich gerecht vor Gott? Okay. Das ist nicht unsere Sprache. Wir würden das heute anders formulieren. Vielleicht: Worauf kommt es in meinem Leben an? Was bleibt von mir? Was gibt mir Sinn, Erfüllung, Glück? Und Jesus? Er entzieht sich. Er hat keine Lust, den religiösen Richter oder persönlichen Weisheitslehrer zu spielen. Hier ebenso wenig wie in vielen anderen Geschichten. Seine kurze, knappe Antwort ist entsprechend völlig pauschal. „Du kennst selbst die Gebote. Liebe Gott und deinen Mitmenschen. Tu das, so wirst du leben.“
Dass dies sein Gegenüber nicht befriedigt, ist klar. So hakt er nach: „Wer ist denn mein Nächster?“ Erst jetzt steigt Jesus ein. Er tut es, indem er die Geschichte des barmherzigen Samariters erzählt. Weil es existenzielle Wahrheiten gibt, die sich nicht in Sätze fassen, sondern nur nachleben lassen. Nicht von ungefähr sagt Jesus von sich: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben: via, veritas et vita. Keines ist ohne das andere zu haben. Deswegen ist Jesus sein Leben lang unterwegs und erzählt Geschichten von Menschen, die unterwegs sind. Und bereits der erste Satz dieser Weg-Geschichte hat es in sich. „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber.“
Da kommt also ein Mensch aus der heiligen Stadt. Namenlos, ohne weitere Eigenschaften. Vielleicht ein Frommer, so wie du, der du mich fragst, ein Besucher des Tempels – und fällt unter die Räuber. Jetzt liegt er da, erschlagen, hilflos am Straßenrand. Für diesen Menschen hat sich die Frage nach dem „ewigen“ Leben gerade, wenn nicht erledigt, so doch ziemlich verschoben. Es geht ums nackte Überleben. Ein radikaler Bruch von Frage und Perspektive. Warum, Mensch, fragst du mich, wie du das ewige Leben bei Gott ererben kannst? Nimm wahr, was mit dem Leben deines Mitmenschen passiert.
Dreimal kommt nun ein Mensch dazu, dreimal sieht er, dreimal geht er. Der Priester wie der Levit kommt und sieht – und geht vorüber. Der Samariter kommt und sieht – und geht zu ihm hin. Zwei fundamental verschiedene Lebensformen, die wir auch heute kennen. Wenn ein Obdachloser im Winter auf der Parkbank liegt – hingehen oder vorüber? Wenn der Nachbarin irgendwann keine Ausreden mehr für ihre blauen Flecken einfallen – hingehen oder vorüber? Wenn zwei Straßen weiter Fremde einziehen, die weder unsere Sprache noch unsere Welt verstehen – hingehen oder vorüber? Wenn mein Kollege während Corona seltsam geworden ist und immer öfter abstruse Geschichten erzählt – hingehen oder vorüber?
Es ist wohl kein Zufall, dass der Hingeher hier ein Fremder, ein Andersgläubiger ist, einer mit der falschen Herkunft und Religion. Er weiß, was es heißt, am Rand zu stehen, auf Hilfe angewiesen, wie der Mann im Graben. Der barmherzige Samariter ist die Gegengeschichte zur Erzählung von den messerstechenden Migranten, zu den alleinigen Narrativen, welche die Diskussionen unserer Tage bestimmen. „Mann syrischer Herkunft rettet in Notsituation.“ „Geflüchtete helfen in Seniorenheim.“ Davon lese ich fast nie etwas. Nicht, weil es nicht geschähe. Sondern, weil es nicht in unsere Wahrnehmung passt. Hüte dich vor Single-Stories! „They are eating the cats.“ Die Verleumdung hätte man damals wohl auch über Samariter erzählt.
Der Grund, warum der Samariter tut, was er tut, ist: „Es jammerte ihn.“ Das griechische Wort an dieser Stelle verweist auf die Eingeweide. Er leidet körperlich mit, seine Gedärme ziehen sich zusammen, sein Magen verkrampft. Der Samariter wird selbst verwundbar beim Anblick des Verwundeten. Wenn du wissen willst, Mensch, was „ewiges Leben“ heißt, dann empfinde dieses Jammern. Hier ereignet sich das, was du suchst. Dann denk nicht darüber nach, wer hier zuständig ist. Riskiere es, für den anderen da zu sein. Das tut der Samariter. Und mit nicht weniger als sieben Verben erzählt Jesus, was Nächstenliebe konkret bedeutet: mitfühlen, hingehen, Öl auf die Wunden gießen, verbinden, hochheben, in die Herberge bringen, pflegen.
Der Samariter bleibt bei all dem bei sich selbst. Er übergibt den Verletzten in die Obhut anderer.
Er zieht weiter seinen Weg. Er finanziert die weitere Pflege – aber er kann es sich wohl auch leisten. Auch das ist wichtig: bei der Liebe zu den anderen sich selbst nicht zu verlieren.
Die Geschichte beginnt mit der Frage des Schriftgelehrten: „Wer ist denn mein Nächster?“ Am Ende stellt Jesus sie ihm zurück – in zweifach markant veränderter Form: „Wer ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden?“ 1. Der „Nächste“ ist nicht das Objekt, sondern das Subjekt. Es ist nicht der andere, sondern ich bin es selbst: wenn ich eben nicht vorübergehe, sondern hingehe, Nähe wage. Und 2. Der Nächste bin ich nicht, sondern werde ich. Es ist kein Sein, sondern ein Werden. Es geht letztlich um die Grundrichtung meines Lebens: Lebe ich passager, an anderen vorbei? Oder lasse ich das Leid anderer mich jammern, nehme ich Anteil, gehe ich hin?
Jesus antwortet dem Schriftgelehrten so am Ende doch auf seine Frage nach dem ewigen Leben: Du kannst es nicht ererben oder irgendwie erwerben. Nicht als Schriftgelehrter, Levit oder Priester. Nicht als berühmte Professorin, mächtiger Politiker, fromme Pfarrerin oder bekannter Publizist. Nicht mit all dem, was du weißt, tust, hast oder machst. Auch nicht mit deinen sozialen Taten. Das, was in Gott ewig besteht, ist das, was sich dort ereignet: zwischen dem ausgeraubten Mann im Graben und dem fremden Samariter. Wofür wir nur das allzu abgegriffene Wort Liebe haben.
Die eigentliche Pointe liegt jedoch in dem, der die Geschichte erzählt. Jesus ist Zeit seines Lebens selbst wie der Samariter immer wieder zu denen am Rand gegangen. Zu Aussätzigen, den Sündern, dem Zöllner Zachäus, der Ehebrecherin, den Blinden und Lahmen. Jesus hat eine Schwäche für die Schwachen, sucht die Nähe von denen draußen. Am Ende wird er selbst draußen stehen, schwach sein, unter die Römer fallen: „Die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot hängen.“
Doch gerade so – als Überfallener, Geschlagener – wird er für uns zum Samariter. Martin Luther drückt dies so aus: „Darum gibt’s nur einen Samariter. Durch den allein werden wir gesund, durch ihn bekommen wir Öl und Wein. Und wenn wir gesund geworden sind, so üben wir Liebe.“ Es ist Buß- und Bettag. Zeit, dass ich die Leitfragen meines Lebens kritisch hinterfrage. Und mich hineinnehmen lasse in die Liebesbewegung Christi. In eine Begegnung mit den Menschen draußen. Mit den Samaritern und den Ausgeraubten unserer Tage. Und mit dem, der mir in beiden begegnet.
Theologische Impulse (150) von Präses Dr. Thorsten Latzel
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