Killing Idols! Du sollst Dir kein Bildnis machen

5.4.2019

Thorsten Latzel

Als evangelische Christen sind wir ja gemeinhin nicht gerade für eine besonders lustbetonte Lebensweise verschrien. Die Reformierten aber gelten als religiöse Spaßbremse par excellence. Und ...

Als evangelische Christen sind wir ja gemeinhin nicht gerade für eine besonders lustbetonte Lebensweise verschrien. Die Reformierten aber gelten als religiöse Spaßbremse par excellence. Und sie haben sich diesen Ruf auch über Jahrhunderte mühsam erarbeitet. Kein Tanzen, kein Trinken, keine Bilder. Stattdessen protestantische Arbeitsmoral und Nüchternheit. Da fällt es schon schwer, in der Fastenzeit überhaupt noch etwas wegzulassen. Die Reformierten als die, die zum Lachen in die Ewigkeit gehen.

Jetzt stamme ich selbst theologisch aus einer eher reformierten Tradition. Und – „Oops, I did it again“. Da werde ich auf freundlichste Weise eingeladen, in der Darmstädter Stadtkirche in der Reihe Kreuzwege zu einem Bild zu predigen. Und ich komme gleichsam nackt zur Party. Ohne Bild. Ohne künstlerischen Zugang. Mit einer geradezu schreienden Lücke auf dem Altar. So viel Spaßfreiheit bedarf einer rechtfertigenden Erklärung. Nun, Angriff ist die beste Verteidigung. Auch in Glaubensdingen. Deswegen gleich zu Beginn meine steile Gegenthese: Ich glaube, das Bilderverbot ist der eigentliche Sinn des Kreuzes.

„Killing Idols.“ Am Kreuz geht es darum, unsere Vorstellungen von Gott radikal zu irritieren, zu untergraben, zunichte zu machen.

Unsere Vorstellung von einem abstrakten, allmächtigen Gott. Gekreuzigt.

Unsere Vorstellung von einem erhabenen Herrscher, der das Bösen in der Welt mit seinen himmlischen Heerscharen vertreibt. Gekreuzigt.

Unsere Vorstellung von einem lieben, freundlich netten Herrn oben im Himmel. Gekreuzigt.

Pointiert formuliert: Was auch immer Sie auf einem Bild vom Kreuz Christi suchen mögen, eines werden Sie dort sicher nicht sehen: nämlich Gott. Sie würden einen leidenden Menschen sehen. Verhöhnt, gequält, gefoltert, grausam hingerichtet. Was Sie nicht sehen würden, ist Gott, wie er eingreift. Was Sie auf einem Bild vom Kreuz Christi sehen würden, wäre vielmehr die Lücke, die Leerstelle, das Fehlen Gottes.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Das Kreuz war und ist der Ort radikalster Gottverlassenheit. Das Ende all unserer religiös-frommen Gottesbilder. „Killing Idols.“

Von dem René Magritte stammt das Bild „La trahison des images“, Der Verrat der Bilder (1929). Auf dem Bild ist eine Pfeife abgebildet. Darunter der Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“, „Dies ist keine Pfeife.“ Dieser Satz sollte m.E. unter jeder Kreuzesdarstellung angebracht werden: „Dies ist keine Kreuzigung“. Der Satz würde den Blick schärfen für die tatsächlichen Kreuzigungen. „Dies ist kein leidender Mensch.“ Es ist nur das Bild eines Menschen, der verhöhnt, gequält, gefoltert und grausam hingerichtet ist.

Das Kreuz Christi macht nicht nur unsere Gottesbilder zunichte. Es durchkreuzt auch unser stilvollen Kultivierungen des Leidens Christi. „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir nicht zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir nicht zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich nicht aufgenommen? Oder nackt und haben dich nicht gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind nicht zu dir gekommen? War es im Louvre, in der Moma, im Städel?“ Unsere Kreuzesbilder verstellen allzu leicht den Blick für den leidenden Mitmenschen. In ihm ist der gekreuzigte Christus real präsent. Nicht in unseren Artefakten. „Dies ist keine Kreuzigung.“ Dieser Untertitel wäre ein wichtiger Spiegelsatz zur damaligen Überschrift „INRI – König der Juden.“ „Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.“

„INRI. Jesus Christus König der Juden.“ Dieser Satz ist ja seinerseits wirklich tricky. Weil er betont, dass das Eigentliche der Kreuzigung nicht abbildbar ist. Der Satz verweist auf den Punkt, an dem das Bild erst zum Kipp-Bild wird. Oder werden kann. Wie beim römischen Hauptmann, der auf einmal in dem von ihm selbst mit gekreuzigten Menschen Gottes Sohn erkennt. Für den die Verhöhnung „König der Juden“ mit einem Mal zur Prophezeiung wird. Erst, wenn es keinen Gott mehr gibt. Erst, wenn alle unsere Bilder von Gott zerbrochen sind. Erst, wenn unsere Ästhetisierungen menschlichen Leidens am Ende sind. Erst, wenn in diesem gähnenden Abgrund alles zerstört ist. Dann und erst dann kann, wo es Gott gefällt, das Kreuz zum Kipp-Bild werden. Für den Gott ohne Namen. Für den Gott ohne Bild. Für den Gott, der im Leiden des anderen Menschen gegenwärtig ist. In Jesus Christus. Und durch ihn in jedem leidenden Mitmenschen.

Gott, der gekreuzigte Christus, ist zu sehen in den konkreten leidenden Menschen. In unseren Pflegeheimen, an unseren Essenstafeln, an unseren Trinkhallen. In den erlittenen Einsamkeiten. In der Verlassenheit allein in unseren Wohnungen oder im Büro und im Klassenzimmern mitten unter den anderen. „Herr, wann haben wir dich gesehen?“ Kein Bild zu haben – das ist für mich Ausdruck einer geistlichen Haltung. Um den anderen wahrzunehmen: sein verborgenes Leiden wie seine wunderbare Schönheit. Und um den Blick zu schärfen: für das tief erlittene Fehlen und Schweigen Gottes im Leben der anderen. Und auch für die Wunder von Gottes Gegenwart.

Es ist m.E. ein echter theologischer Verlust, dass in der lutherischen und römisch-katholischen Tradition bei den Zehn Geboten das Bilderverbot einfach als Anhängsel zum ersten Gebot verstanden wird. Und man es deshalb in der Regel einfach weglässt. Anders als im Judentum und in den orthodoxen, anglikanischen und reformierten Kirchen. Stattdessen zählt man in den lutherischen Kirchen dann das Gebot „nicht zu begehren“ als zwei Gebote – „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus“ (9. Gebot). Und „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Viel, noch alles, was sein ist“ (10. Gebot).

Die Zählung entspricht aber nicht dem alttestamentlichen Text. Und auch in Zeiten explodierender Immobilienpreise verlieren wir theologisch nicht wirklich viel, wenn man das Haus zu all dem anderen zählt, was ich nicht begehren soll.

„Du sollst Dir kein Bildnis machen“. Der Sinn des Bilderverbots wurde oft missverstanden. Nein, wir müssen jetzt keine Kruzifixe von den Wänden reißen, keiner Pietà die Nase abhauen und auch nicht gleich nach dem Gottesdienst irgendwelche Heiligen von ihren Säulen stürzen. Das Bilderverbot richtet sich gegen den kultischen Gebrauch von Bildern, gegen die irrige Vorstellung, dass wir Gott in irgendeiner Weise habhaft werden könnten. Der Gott ohne Namen, der von sich sagt „ich werde sein, der ich sein werde“. Der Gott ohne Bild, der eben uns zu lebendigen Ebenbildern geschaffen hat. Der Gott, der durch Christus im Leiden des anderen gegenwärtig ist. Das Verbot richtet sich gegen die Bilder, damit wir einander als Ebenbilder erkennen. Das ist keine Vergeistigung Gottes. Sondern seine radikale Personalisierung und aktuale Vergegenwärtigung. In der Schönheit und im Leiden meines Banknachbarn. In der Kirche, in der Straßenbahn, in der Schule, im Park.

Kein Bild zu haben, das heißt für mich, dass wir selber Teil der Kreuzes-Darstellung werden. Kein Bild zu haben, das heißt, dass ich Augen für meinen Mitmenschen bekomme: für sein Leiden, seine Schönheit, seine Einsamkeit, seine Gottverlassenheit. Als Spiegel der Anwesenheit und Verborgenheit Gottes. Kein Bild zu haben, das heißt, eine heilsame Unterbrechung in Zeiten des narzistischen Selfie-Wahns und allgegenwärtigen Fotomachens. Von Oscar Wilde stammt der Satz: „Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.“

Zum Schluss eine kleine geistliche Wahrnehmungsübung: Gott ist zu sehen in den Menschen, die an diesem Tag neben Ihnen sitzen werden. Schauen Sie sich daher heute einmal um. Es sind oft sehr zivilisierte Menschen. Mit gebügelter Kleidung und gewaschenen Haaren, geputzten Zähnen und geputzten Schuhen. Das ist das Außen-Bild des anderen, unser Straßengesicht. Aber sehe ich auch das Andere in ihr und ihm? Ihre wunderbare Schönheit, seinen verborgenen Glanz, ihre Kraft? Der Mensch neben, vor, hinter mir als ein einmaliger Schöpfungsakt Gottes. Und sehe ich auch seine Einsamkeit, ihre Selbstzweifel, seine Sorgen? Die Ängste, die Traurigkeit des Anderen? Die vielen unausgesprochenen Wünsche, Fragen und Anklagen der eigenen Seele.

Ich glaube, dass uns Bilder oftmals hindern, unser lebendiges Gegenüber so wahrzunehmen, dass wird das tiefe Geheimnis in ihr und in ihm entdecken.

Schenk Gott uns in Jesus Christus offene Augen, damit wir einander wirklich sehen können. Und ihn selbst, Gott, in unseren Banknachbarn.

Theologische Impulse 13, von Dr. Thorsten Latzel