Mehr als der Sand. Ein Lob geistlicher Kürze

14.6.2019

Thorsten Latzel

„Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. (…) Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ...

„Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. (…)
Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!
Wie ist ihre Summe so groß!
Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:
Am Ende bin ich noch immer bei dir.“ (Psalm 139, 14.17-18)

Warum arbeiten, machen und vor allem reden wir als Kirche eigentlich immer so viel?
Ein sonntägliches Beispiel:
Das Vaterunser (alles, was Jesus Christus zu beten lehrte) – 63 Wörter
Die Zehn Gebote (alles, was Gott selbst zu tun lehrte) – 103 Wörter
Das Glaubensbekenntnis (alles, was die Alten zu glauben lehrten) – 103 Wörter
Eine Predigt – geschätzt ungefähr 1.500 Wörter, gefühlt oft noch etliche mehr.
Warum?

Antwortversuche:

1. Fußballerisch: Weil dies zu den drei grundlegenden Weisheiten des Gottesdienstes gehört:
Das eckige Wort Gottes muss ins Runde des menschlichen Gehörgangs.
Nach dem Gottesdienst ist vor dem Gottesdienst.
UND: Die Predigt dauert 15 Minuten.

2. Wissenschaftlich: Weil der Sprung über den garstigen Graben von zweitausend Jahren einen ordentlichen verbalen Anlauf braucht: eleganter exegetischer Absprung vom biblischen Text, gewagter Flug über 2000-3000 Jahre Wirkungsgeschichte, zielgenaue Landung in der Gegenwart. Das braucht Zeit. Und Wörter.

3. Kirchlich: Weil aus der „Kirche des Wortes“ längst eine „Kirche der Wörter“ geworden ist:
Niemals gab es in der Kirche so viele Menschen wie heute, die sich professionell um Predigt, Publikation, Pressearbeit kümmern. Wir haben als Kirche eben so viel zu sagen. Oder meinen dies zumindest. Wer, wenn nicht wir, sollte der Welt die Welt erklären?

4. Poetisch: Weil die Offenbarung Gottes ein so weites endloses Meer ist.
Und weil wir – wie weiland im Bild des Kirchenvaters Augustin – mit unserem Teelöffel theologischer Einsicht am Strand stehen, wild entschlossen, durch eifriges Buddeln dem Geheimnis des Lebens auf den Grund zu gehen.

„Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. (…)
Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!
Wie ist ihre Summe so groß!
Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:
Am Ende bin ich noch immer bei dir.“

Ein Versuch in geistlicher Kürze. 152 Wörter

1. Ich glaube, dass Gott mich schöner, wunderbarer, liebenswerter gemacht, als ich es mir überhaupt vorstellen kann. Das ist sehr gut.

2. Ich glaube, dass Gott auch meinen Mitmenschen schöner, wunderbarer, liebenswerter gemacht hat, als ich es mir vorstellen kann. Das ist sehr gut.

3. Ein Grundirrtum im Leben besteht darin, dass ich nicht aus Gott, sondern mir selbst schön sein will. Das ist fatal.

4. Aufgabe der Kirche ist es, davon zu reden, dass Schönheit nicht ist, sondern wird. Sie entsteht, wenn wir einander mit Gottes Augen sehen lernen.

5. Ich glaube, dass wir auch in der Kirche nicht von diesem Grundirrtum des Lebens ausgenommen sind. Deshalb reden, machen, arbeiten wir vielleicht so viel.

6. „Vielwörterei“ ist weder ein Zeichen innerer Gewissheit, noch überzeugt sie andere.

7. Meine Hoffnung ist, dass Gott uns hilft, die Sache auf den Punkt zu bringen: im Kreuz, in dem sich hässliche Gehässigkeit in Schönheit verwandelt.

Theologische Impulse 23, von Dr. Thorsten Latzel