Mystik, Feuerstellen & protestantischer Pioniergeist – Was wir von der Kirche in den Niederlanden lernen können

14.8.2023

Thorsten Latzel

Taube „Pioniersplekken“: So heißt auf Niederländisch, was wir Erprobungsraum nennen. Mit einer Gruppe der Evangelischen Kirche im Rheinland haben wir Mitte August dieses Jahres solche Orte ...

„Pioniersplekken“: So heißt auf Niederländisch, was wir Erprobungsraum nennen. Mit einer Gruppe der Evangelischen Kirche im Rheinland haben wir Mitte August dieses Jahres solche Orte besucht. Um von den Ideen und Initiativen der Protestantischen Kirche der Niederlande (PKN) zu lernen. Über zweihundert solcher Projekte gibt es davon, eine richtige Bewegung. Die kirchliche Situation der Niederlande unterscheidet sich in manchem von unserer – etwa durch die frühere Tradition einer stark konfessionalistischen Aufsplitterung und Versäulung der gesamten Gesellschaft. In anderen Entwicklungen ist sie uns voraus. Etwa im Blick auf die starke Entkirchlichung („un-churching“), das trifft es genauer als Säkularisierung (es gibt hier wie dort weiter große religiös-spirituelle Bedürfnisse). Oder hinsichtlich der demographischen Herausforderung. Henk, stellvertretender Presbyteriums-Vorsitzender, drückt es so aus: „Die Hälfte unserer Gemeindemitglieder sind über 80 Jahre alt.“ Wie reagiert die Kirche auf diese Herausforderungen? Hier eine kleine Blütenlese, was wir, was ich lernen konnte – mit tiefem Dank an die niederländischen Glaubensgeschwister. Von eurem Engagement, eurer Glaubensfreude und großen Gastfreundschaft haben wir viel mitgenommen.

1. „To live out of wonder“. Die Pionierbewegung wie die ganze Kirchenentwicklung ist getragen von einer geistlichen Erneuerung. Was heißt es, heute persönlich Christus nachzufolgen – und dabei zugleich mit Gottes Wundern zu rechnen. Gott leitet die Kirche, aus seinen Wunder leben wir. „The future is Yours“ – so heißt eine Perspektivschrift der PKN.

2. Alle Veränderung beginnt mit Hören. Am Anfang jedes Pionierprojekts steht ein vierfaches Hören: auf Gott, sich selbst, das konkrete Umfeld vor Ort, die Situation der Kirche. Resonanzerfahrung, ganz im Sinne von Röm 10,17: „Der Glaube kommt aus dem Hören.“ „Und wenn du noch nicht weißt, was du tun sollst, dann tu auch nichts und hör erst weiterhin.“ So erläutert es Eric, einer der kreativen Vordenker des Prozesses.

3. Die Fähigkeit, Sachen zu lassen. Wenn Neues wachsen soll, braucht es Platz. In den Kirchen dort wie hier bei uns sind wir mitunter stark in alten Mustern verhaftet. Das betrifft etwa auch den Sonntagsgottesdienst. Wenn von 3000 Gemeindegliedern regelmäßig nur 15, 20 zum Gottesdienst kommen, sollten wir etwas ändern. Es gibt kleine Formate mit Taizé, Lesetexten oder Bibelteilen ohne größere Vorbereitung. Jedes Pionierprojekt, das neu nach außen zielt, braucht Zeit und Kraft.

4. Landkarte religiöser Bedürfnisse, neugestaltet. Die einzelnen Pioniersplekken darf man sich nicht zu gigantisch vorstellen. Doch gemeinsam bilden sie eine Landkarte von Orten, an denen Glauben lebt und religiöse Bedürfnisse neu Heimat finden: still werden, Sinn finden, Gemeinschaft erfahren, Verantwortung wahrnehmen. Die „Kleine Kapelle“ in Nijverdal etwa als ein Raum für Stille und der Versuch, klösterliche Elemente gemeinsam im Alltag zu leben. Die Kliederkerk in Eerbeek steht für familienfreundliche Gottesdienste (messy church) gemeinsam mit der Schule. Der Vuurplaats (Feuerstelle) in Apeldoorn bietet verschiedene Angebot für Sinnsucher und junge Erwachsene. Sie alle wachsen von unten, gestalten alte Traditionen neu. Und die Frage nach dem „Was“ kommt dabei meist nach dem „Warum“, „Wie“ und „Wo“.

5. Zu den Menschen gehen. Der Pioniergedanke ist zutiefst missionarisch, in einem weiten Sinn: wie Christus zu den Menschen gehen und Gott neu entdecken. Wir bringen Gott nicht zu den Menschen, Gott wartet dort auf uns. Dafür spielt die Begleitung individueller Lebensläufe eine zentrale Rolle: Wo und wann sind Berührungspunkte, an denen es einfach passt?

6. Teil einer „inspiring church“. Für die einzelnen Projekte ist die Vernetzung wichtig: Zunächst zur Gemeinde vor Ort. Kein Pioniersplek ohne Anbindung zur Ortsgemeinde, die ihn mit fördert. So dann zu den anderen Initiativen als stärkendes Netzwerk. Und schließlich zur Gesamtkirche, damit eine inspirierende Gesamtkirche wächst – die Vielfalt und Einheit verbindet. Glaube braucht beides, Bewegung und Institution. Doch hier liegt ein zentraler Knackpunkt, Stichwort „un-churching“: „Why do I belong to church?“

7. Pionierkultur: Der Pioniergedanke hat in der Protestantischen Kirche der Niederlande in den letzten Jahren eine Entwicklung durchlaufen: von einzelnen Projekten hin zu einer breiten Bewegung und dem noch weiteren Ziel einer Kulturveränderung. Es geht letztlich um eine andere Grundhaltung in allem kirchlichen Handeln. Die Initiativen, die wir kennenlernen konnten, machen Mut und Lust, den Pionierort am eigenen Ort zu entdecken. „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ (Jes 43,19)


Theologische Impulse (131) von Präses Dr. Thorsten Latzel

Weitere Texte: www.glauben-denken.de

Als Bücher: www.bod.de

Beiträge zu “Mystik, Feuerstellen & protestantischer Pioniergeist – Was wir von der Kirche in den Niederlanden lernen können

  1. Lieber Herr Präses,

    ganz spontan bin ich begeistert. Alles was hier steht ist Inhalt meines christlichen Lebensinns.
    Ständig bin ich auf der Suche nach den anderen und suche dabei auch Brüder und Schwestern im Glauben.

    Und unter 6. schreiben Sie von einem Knackpunkt, den ich auch sofort sehe.
    Die Einheit kommt aus der Frohen Botschaft, aus dem neuen Testament. Die Einheit haben wir aktuell schon/noch.
    Ausbaufähig ist zu aller erst die Vielfalt. „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“

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