Liebe Geschwister!
„Dieser ganze Pessimismus ist doch großer Mist.“
Der Satz bricht aus meiner Tochter förmlich raus –
abends in der Küche,
nachdem wir gemeinsam Nachrichten geschaut haben.
„Lauter negative Energie. Das macht doch überhaupt keinen Spaß.“
Und recht hat sie. Vielleicht kennen Sie das auch.
Der tägliche Katastrophen-Krisen-Cocktail kann einem die letzte Kraft rauben.
Auch schon rein physisch.
Der Rücken verkrampft, das Herz wird eng,
die Kehle schnürt zu. Man kriegt keine Luft.
Die Augen werden starr. Tunnelblick.
Angst macht Enge.
Das tut nicht gut –
weder uns als einzelnen noch als Gesellschaft.
Und dann: dieses wunderschöne Motto der interkulturellen Woche:
„Neue Räume“.
Und dazu der Psalm 31:
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“
Yes, denke ich.
Genau das brauchen wir.
Neue, weite Räume.
Und wir brauchen Hoffnungs-Geschichten –
die Mut machen,
sich in diese neuen, weiten Räume aufzumachen.
– Wie die Geschichte des jungen Geschwisterpaares aus Afghanistan,
das ich in einer internationalen Gemeinde kennenlerne.
Sie haben in wenigen Monaten fließend Deutsch gelernt,
lernen jetzt für ihr Abitur,
wollen beide Ärztin bzw. Arzt werden.
Die Schwester tritt dann bei einer Demo gegen Rechtsextremismus auf
und erzählt, was es heißt, als junge Frau aus Afghanistan zu fliehen,
hier erstmals Freiheit, Menschenrechte zu erfahren,
und davon, was sie unserem Land gerne wiedergeben möchte.
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“
– Oder von dem Forscher, den ich kürzlich auf einer Tagung zu KI traf.
Er leitet ein großes Institut zur Technikfolgenabschätzung.
Im Gespräch sagt er Sätze, die mir nachgegangen sind:
„Es gibt keine ethische Rechtfertigung weder für Fatalismus
noch für Resignation.
Wir haben faszinierende neue technische Möglichkeiten.
Die sind an sich weder gut noch böse.
Entscheidend ist, was wir Menschen daraus machen.
Was wir brauchen, ist ethische Orientierung
und innere Freiheit, dies zu gestalten.“
„Du stellst unsere Füße auf weiten Raum.“
– Da ist der Pastor auf dem Gospelkirchentag in Essen letzte Woche.
Ein leidenschaftlich engagierter Mensch.
Er spricht über Klimawandel.
„Ich weiß nicht, ob wir das mit dem Klimawandel hinbekommen.
Aber wir müssen es doch zumindest versuchen,
einfach unser Bestes geben.
Einen Baum im Regenwald zu pflanzen, kostet 6 Euro.“
Nach der Kollekte im Gottesdienst waren es 3.000 Bäume mehr.
Einfach mal machen.
„Du stellst unsere Füße auf neue, weite, grüne Räume.“
Um neue Räume zu erschließen,
brauche ich selbst aber oft alte Räume.
Alte, durchbetete Kirchen,
in denen ich zur Ruhe, Besinnung kommen kann,
meine Seele sich weitet,
mein Denken eine andere Richtung erfährt
und ich etwas vom Glauben unserer Mütter und Väter spüre.
Und alte Sprachräume wie die Psalmen.
Die Psalmen sind Kathedralen aus Worten.
Klage-, Hoffnungs-, Wandlungsräume für meine Seele.
Ein Raum innerer Einkehr und letzter Wahrheit.
Ein Raum, in dem ich meine tiefen Ängste aussprechen kann.
Wie der Beter in Ps. 31:
Mein Auge ist trübe geworden vor Gram,
matt meine Seele und mein Leib. […]
Allen meinen Bedrängern bin ich ein Spott geworden,
eine Last meinen Nachbarn und ein Schrecken meinen Freunden.
Die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir.
Ein Raum, in dem ich aber mit meinen Ängsten nicht alleine bleibe.
Gott bekommt meine ganz Angst um die Ohren.
Das große Du,
das sich all mein Schimpfen, Klagen, Motzen anhört.
Und dann passiert es, so Gott will, das Wunder:
Aus ängstlicher Enge wird auf einmal Hoffnungsweite.
Wie wenn sich in mir ein Fenster öffnet.
Ohne dass ich weiß, wie, warum oder woher.
Drei Sätze sind dafür in dem Psalm 31 entscheidend:
1. „Meine Zeit steht in Deinen Händen.“
Das ist das krasse Gegenteil zu Fatalismus.
Mein Leben wird nicht vom Schicksal bestimmt,
irgend einem unergründlichen Fatum,
sondern von Dir, Gott, der Du Dich ansprechen lässt.
Es geht um Führung Gottes statt Fatalismus.
Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände.
Gott ist es, der mein Leben, unsere Welt, das All regiert.
2. „Ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“
Das ist der letzte Satz, mit dem Jesus laut Lukas am Kreuz stirbt.
Es geht um mein Einstimmen in diese Führung Gottes.
Selbst dann, wenn ich von Gott nichts spüre,
seine Führung nicht erkenne,
nicht einmal mehr weiß, ob es Gott gibt.
Auch dann ist Gott in Christus an meiner, unserer Seite.
3. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“
Das beschreibt das Wunder:
dass aus Angst Hoffnung wird,
aus Tod neues Leben, aus Enge weiter Raum.
Wie dies geschieht?! Ich weiß es nicht. Das ist Gottes Sache.
Aber ich vertraue darauf, dass Gott es kann und tut.
Und dann ist es an mir zu gehen. Hinaus in den weiten Raum.
Einfach mal machen. Losgehen.
Über kulturelle, sprachliche, moralische Grenzen hinweg.
Hin zu meinen Mitmenschen, die mir von Gott geschenkt sind.
Und mich von Gottes Wunder überraschen lassen.
Ja, Pessimismus ist großer Mist. Genau wie Fatalismus.
Weil sie uns daran hindern, Gott und einander zu vertrauen.
Weil sie mich daran hindern, offen auf andere zuzugehen.
Weil sie die tiefen Risse in unserer Gesellschaft nur vertiefen.
Nein, ich will in keiner Gesellschaft leben,
in der Menschenrechte und der Schutz von Geflüchteten nichts mehr gelten.
in der über Fragen von Schöpfungsbewahrung nach Wahlprognosen entschieden wird.
in der Fatalismus und Pessimismus alles bestimmen.
Gott hat uns Hoffnung und weiten Raum geschenkt,
nicht Angst und Enge.
Mein Ziel für diese interkulturelle Woche ist daher:
Gott vertrauen und meinen Mitmenschen.
Einfach einmal losgehen – zu allererst und unmittelbar bei mir
Und mich dann davon überraschen lassen,
was Gott Großes mit uns vorhat.
Amen.
Theologische Impulse (147) von Präses Dr. Thorsten Latzel
Weitere Impulse: www.glauben-denken.de
Als Buch: www.bod.de
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