Zeichensetzung kann Leben retten. Das wird schon an dem kleinen Satz deutlich: „Komm, wir essen, Oma!“ Fällt das zweite Komma weg, wird es für die Großmutter heikel und sie sollte sich besser nach neuen Enkeln umsehen.
Auch theologisch spielt der rechte Umgang mit den kleinen Satzzeichen eine große Rolle.
Da ist etwa der Punkt, das Lieblingskind dogmatischen Denkens. „Gott ist so. Glaube heißt dies. Punktum. Schluss.“ Er steht für ein feststellendes, behauptendes, normatives Reden und Denken. Als solcher ist der Punkt in der flüssig-flüchtigen Postmoderne in Verruf gekommen, zumindest, wenn er alleine und nicht als Triple auftritt: … Er beendet nicht nur den Satz, sondern auch den Diskurs – oder versucht es zumindest. „Roma locuta, causa finita.“ Die Problematik dessen ist spätestens seit der Reformation hinlänglich bekannt.
Umgekehrt ist aber auch das Fehlen von Punkten ein Problem. Etwa, wenn Diskussionen in Leitungsgremien weiter und weiter und immer weiter gehen und nie zum Ende kommen.
Oder wenn die Stimme in Predigten nie runtergeht, immer oben bleibt und so eine lila Schleife bekommt. „Pastorales Schweben“ nannte das unser Rhetoriklehrer im Vikariat und hat uns dann gleich laut einen Zeitungsartikel lesen lassen: „Komm zur Sache. Mach einen Punkt.“ Der Punkt steht so eben auch für die Fähigkeit, sich klar zu positionieren. Öffentlich etwas zu bezeugen. Rede und Antwort zu stehen. Also, im besten Sinne „protestantisch“ zu sein (im Sinne des lateinischen protestari – öffentlich für etwas einstehen).
Dann gibt es da das Fragezeichen. Theologischer Ausdruck des Suchens, Zweifelns, der Anfechtung. Die Bibel beginnt mit zwei Fragen von Gott: „Wo bist du, Adam?“ und „Wo ist dein Bruder, Kain?“ Und das irdische Leben Jesu endet mit der Frage nach Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dazwischen spielt sich der gesamte Glaube ab. Der Frage wohnt eine Kraft inne, welche die Antwort oft nicht mehr besitzt. Daher ist es wichtig, Gott und uns Menschen nicht zu schnell zu verstehen.
„Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt, wenn man hinabsieht“ (G. Büchner), von der Tiefe Gottes ganz zu schweigen. Dafür erscheint mir das Fragezeichen im Sinne eines tiefen, existentiellen Suchens, Ringens, Forschens schon sehr angemessen. Zeit unseres Lebens bleiben Gott und wir selbst „in statu quaestionis“, fragliche Wesen.
Umgekehrt gibt es aber auch eine narzisstische Verliebtheit in den eigenen Zweifel. Man lässt alles offen, schwebt im Möglichen, flüchtet sich ins sophistische Hinterfragen bzw. in ironische Brechungen. „Ist das so?“ Wenn wir etwa zu Gott, zur Theodizee, zu Liebe und Leid und Ewigkeit nicht mehr zu sagen haben, als nur zu fragen, bleibt das unbefriedigend.
Interessant finde ich, dass Jesus in seinem irdischen Leben darauf eine eigene Antwort gegeben hat. Er hat diejenigen, denen er begegnet ist, gefragt: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Er hat einen wundertätigen Glauben in seinem Gegenüber geweckt und wirken lassen. Das war seine Antwort auf die Frage des Täufers: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Er kam, sah – und half anderen: nicht zu siegen, sondern zu lieben.
Vielleicht ist das zentralste theologische Satzzeichen aber der Gedankenstrich. Er unterbricht unser Reden und Denken. Weil das Wesen der Religion heilsame Unterbrechung ist. Er leitet einen Einschub ein, eine Parenthese. Er schafft Raum für das, was eigentlich zu sagen wäre – doch nicht von uns gesagt werden kann. Wo uns als Menschen oft nur beredetes, hoffendes Schweigen bleibt. Der Gedankenstrich steht für eine radikale Zäsur, in der Gottes Geist – wann und wo es ihm gefällt – Intelligenz verleiht: die Gabe, zwischen den Zeichen und Zeilen zu lesen, um wirklich zu verstehen. Ein Sabbat mitten im Satz, ein orthographischer Platzhalter für den Auferstehungsglauben.
Das zeigt sich exemplarisch an dem wohl „wichtigsten Gedankenstrich der Bibel“. Er steht in Psalm 22, Mitten in Vers 22. Jesus betet am Kreuz (nach Markus und Matthäus) den Anfang dieses Psalms: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Danach folgt dann im weiteren Psalm eine einzige, lange, abgründige Klage: der Betende erfährt sich als Wurm, kein Mensch, ein Spott und Hohn der Leute, auf Gott geworfen, umringt von mächtigen Büffeln, brüllenden Löwen, bösen Rotten, ausgeschüttet wie Wasser, vertrocknet wie eine Scherbe, allein, ohne Helfer, mit zertrennten, durchbohrten Gliedern, im Todesstaub.
Der Psalm bietet so die Vorlage der Passionsgeschichte: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ Ein Mensch im tiefsten Abgrund des Leidens, verlassen von Gott und aller Welt. Das geht den ganzen Psalm so bis zur ersten Hälfte von Vers 22. „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der wilden Stiere.“ Doch dann – der Gedankenstrich – Pause – Zäsur. „Du hast mich erhört!“ Und die weitere zweite Hälfte des Psalms ist ein einziger Lobgesang des Erhörten auf Gott: „Rühmet den HERRN!“ „Dich will ich preisen.“ „Ich will deinen Namen kundtun.“ Was damals dazwischen geschehen ist – ein priesterlicher Heilszuspruch, eine nächtliche Gebetshörung, ein Heilungswunder? – wir wissen es nicht. Ob Jesus als frommer Jude im Sterben diese Hoffnung vor Augen hatte? – ich weiß es nicht. Doch für mich ist dieser Gedankenstrich in Psalm 22, Vers 22 Inbegriff der Hoffnung auf Auferstehung. Die Nulllinie menschlichens Lebens, Handelns, Hoffens – zugleich die Baseline für Gottes Wunder. Wo wir nichts mehr zu sagen wissen, beginnt Gott heilsam zu wirken.
Wenn einem dies widerfährt, bleibt nur Dank, Staunen – und Ausrufezeichen!
„Du hast uns erlöst, du treuer Gott!“ Amen! Ausrufezeichen!
Theologische Impulse (146) von Präses Dr. Thorsten Latzel
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