Religion und Freiheit. Ein unversöhnlicher Gegensatz?

28.6.2019

Thorsten Latzel

Zu diesem Titel fand kürzlich eine Veranstaltung in der Evangelischen Akademie statt. Nun, wenn Theologen so eine Frage stellen, dann ahnt man schon, woraus das ...

Zu diesem Titel fand kürzlich eine Veranstaltung in der Evangelischen Akademie statt. Nun, wenn Theologen so eine Frage stellen, dann ahnt man schon, woraus das rauslaufen wird. „Nein. Natürlich nicht. Religion und Freiheit gehören wesentlich zusammen.“ Ach, wenn die Sache so einfach zu verneinen wäre! Erlauben Sie mir, ein paar Ambivalenz-Erfahrungen einzustreuen.

Ja, es gab wohl mal eine Zeit, in der wäre die Frage sicher einfacher zu beantworten gewesen. Da waren Protestanten etwa noch wirkliche Piraten, Freibeuter des Heiligen Geistes. Da heirateten Mönche und Nonnen, revolutionierten sie das Bildungswesen, legten sich mutig mit Papst, Kaiser und Traditionen an, aßen Würste in der Fastenzeit. Heute dagegen wirkt die evangelische Kirche eher wie eine Institution der religiösen Gralshüter zur Wahrung sozialverträglicher, traditioneller Werte. Im Nachhinein haben wir es natürlich eigentlich immer vorher gewusst – die Sache mit der Emanzipation der Frau, mit der Gleichstellung von Homo-, Bi- oder Transsexuellen oder auch mit der Demokratie. Die erste Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Demokratie kam ja auch immerhin schon 1985. Man könnte den Eindruck haben, wir sind besser im Reden über Freiheit als in der Praxis der Freiheit. Religion als eine Sache eher für zwanghaft, normative Typen, die anderen gerne vorschreiben, wie sie zu leben haben.

In unseren Gemeinden trifft man zumindest wenige Leute mit blauen oder grünen Haaren. Wir tragen unser Kopftuch gleichsam innen. Und auch die Milieus der Expeditiven, der Performer, der kreativen Querdenker trifft man eher selten. Warum eigentlich, wenn wir doch die Freien sind?

Nun, evangelische Freiheit funktioniert ja eher nach dem „Ja, aber“-Prinzip. Freiheit ist bei uns immer schon attributiv eingefangen, dialektisch domestiziert: „Verantwortete Freiheit“, „Freiheit in Bindung“, „Freiheit und Knechtschaft.“ Mit Paulus zu sprechen: „Alles ist euch erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist euch erlaubt, aber nicht alles baut auf.“ Dazu der Lieblingskommentar eines Kollegen: „Alles vor dem Aber ist in der Regel gelogen.“

Doch auch mit der Freiheit ist das ja keineswegs so einfach. Sie hat als Zielwert spätestens seit den sichtbaren Folgen des Neo-Liberalismus als zentraler politischer Zielbegriff doch erhebliche Schrammen abbekommen. Und wie sieht es eigentlich aus, wenn ein politisches System wie China zukünftig noch viel höhere Effizienz, rasanteren technologischen Fortschritt und verlässlicheren wirtschaftlichen Wohlstand bietet als das alte Europa? Wie viel sind uns dann unsere demokratischen Freiheitsideale tatsächlich noch wert? Ist dann Freiheit wirklich „das einzige, was zählt“ (Marius Müller-Westernhagen)?

Vor kurzem feierten wir in Deutschland 70 Jahre Grundgesetz. Ein Text, der in unserem Land gleichsam zivil-religiöse Dignität besitzt. Die FAZ druckte aus diesem Anlass eine Zeichnung des Karikaturistenduos Gresser & Lenz, die das schön zum Ausdruck bringt. Darauf ist zu sehen, wie Mose mit den 10 Geboten auf zwei steinernen Tafel vom Berg hinabsteigt – als eine Hand aus der strahlenden Wolke kommt, darin das Grundgesetz und die himmlische Stimme: „Moment, Moses, nimm das noch für die Deutschen mit.“ Das Grundgesetz gleichsam als eine Gabe Gottes neben den Zehn Geboten. Und das Gefühl: Wir sind sicher nicht das auserwählte Volk, aber Gott hat es die letzten 70 Jahre mit uns schon sehr gut gemeint.

Interessant wird es, wenn man den Vergleich von Grundgesetz und Zehn Geboten einmal aufnimmt und im Blick auf das Verhältnis von Religion und Freiheit betrachtet. In beiden Texten steht der alles entscheidende Satz am Anfang: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Punkt. Kein Aber. Es geht um Würde und um Freiheit. Alles andere ist dann Erläuterung. Die ganze Theologiegeschichte mehr oder weniger ein großer Fußnotenapparat zu dieser Freiheitstat Gottes.

Im Grundgesetz folgen dann in Art. 1-19 die weiteren Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. In der ursprünglichen Fassung von Art. 1 hieß es, dass der Staat für Bürger da sei, nicht der Bürger für Staat. Die Intention klingt weiter durch, wenn alle Gewalten des Staates durch unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte gebunden sind. In den 10 Geboten entspräche dies der sogenannten ersten Tafel, den Geboten im Gottesverhältnis. Klassischer Weise interpretiert man diese als Schutz gegen eine Übergriffigkeit des Menschen gegenüber Gott: die Einzigkeit Gottes, das Verbot von Gottesbildern, die Heiligung seines Namens und des Sabbats bzw. Feiertages. Aber: Muss Gott, der Schöpfer Himmels und der Erden, ernsthaft vor uns geschützt werden? Tatsächlich geht es doch vielmehr darum unsere Freiheit zu schützen vor der Übergriffigkeit und Vereinnahmung durch religiöse Vertreter. Gott schützt uns vor denen, die in seinem Namen auftreten. Und: Gott schützt uns vor Gott!

Das ist eine der tiefen Pointen der Ursprungserzählung von den zehn Geboten: Die von Gott gegebene Freiheit ist auch gegen Gott zu erhalten. Als Moses 40 Tage auf dem Berg Horeb war, drängte das Volk Aaron dazu, ein Goldene Kalb anfertigen zu lassen. Und darüber entbrannte der Zorn Gottes so sehr, dass er das ganze halsstarrige Volk vernichten und mit Moses einen Neuanfang starten wollte, quasi eine zweite Sintflut (2. Mose 32). Da führt Moses – in einer der schönsten Fürbitt-Geschichten der Bibel – den Exodus gegen Gott selbst an. Er bindet den zürnenden Gott an seine eigene Freiheitstat: „Du hast das Volk in die Freiheit geführt. Was sollten dann die Ägypter von Dir denken? Und gedenke an Deinen ewigen Schwur und Deine Verheißungen an die Erzväter.“

Und Gott lässt sich von Moses überzeugen.

Im Grundgesetz folgen dann in die Art. 20-146 zur Regelung der Staatsorgane: Bund/Länder, Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung, Gesetzgebung, Verwaltung, Finanzen. Im Dekalog entspräche dem die zweite Tafel, die Gebote zu den zwischenmenschlichen Institutionen der Freiheit: Familie, Leben, Besitz, Ehe, Wahrheit/Rechtsprechung, Begehren. Sie sind als fundamentale Abwehrgebote formuliert, wie bei Verfassung reduziert auf das Wesentliche. Zentral ist in ihnen der Gedanke, dass ich meine eigene Freiheit nur wahre, wenn ich die Freiheit anderer auch vor mir schütze. Im Bilde gesprochen: Wenn ich andere ausnutze, knechte, missbrauche, habe ich die ägyptische Sklaverei noch nicht verlassen. Insofern endet meine Freiheit nicht an der Freiheit des anderen, sie realisiert sich in ihr.

Nun kommt es nicht von ungefähr, dass die großen evangelischen Akademien in Deutschland alle etwa genauso alt sind wie das Grundgesetz. In ihnen fließen der politische Freiheitsgeist des Grundgesetzes und die theologisch-ethische Freiheitsorientierung christlichen Glaubens zusammen. Es sind Orte, an denen Religion und Freiheit einander immer wieder neu als Geschwister begegnen.

Was Tyrannen nie begreifen

Meine Freiheit endet nicht,
wo Deine Freiheit beginnt.
Sie fängt in ihr erst an.
Alles andere ist einsame Willkür
von Sklaven höheren Grades. (TL)

Ohne Aber

Als Gott uns Menschen schuf,
frei, schön, sehr gut,
folgte kein Aber.
Als Gott für uns Menschen starb,
frei, unbedingt, liebend,
folgte kein Aber.
Wenn Gott in uns Menschen lebt,
frei, brennend, liebend,
kann unser Aber endlich schweigen. (TL)

Theologische Impulse 25, von Dr. Thorsten Latzel