Rückwärtsgehen

3.11.2019

Thorsten Latzel

Alles fing an mit meiner Achillesferse. Genauer gesagt mit einer Achillodynie. Meine Physiotherapeutin riet mir, zur Entlastung der entzündeten Sehne rückwärtszugehen. Auf die Skepsis, die ...

Alles fing an mit meiner Achillesferse. Genauer gesagt mit einer Achillodynie. Meine Physiotherapeutin riet mir, zur Entlastung der entzündeten Sehne rückwärtszugehen. Auf die Skepsis, die mir bäuchlings auf der Massage-Liege auch ohne Worte offensichtlich abzuspüren war, antwortete sie: „Aber, Herr Latzel, das kann Ihnen doch egal sein, was die Leute denken.“ Ich war unsicher, was das heißt: „Da stehen Sie doch drüber“ oder „Das macht doch jetzt auch nichts mehr aus“.

Nun ist eine rückwärtsgewandte Lebenshaltung ja weithin verpönt. Das ist retro, altbacken, konservativ, so was von 2015. Auch biblisch gibt es hier einige Vorbehalte: Lots Frau blickt gegen die Anweisung der Engel zurück auf das untergehende Sodom und erstarrt zur Salzsäule (1 Mos 19,26). „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lk 9,62) Auch Martin Niemöller hat diese agrarische Weisheit als geistliche Lebenshaltung an seinen Sohn vermittelt: „Junge, du musst zusehen, dass du im Leben immer eine gerade Furche ziehst.“ Der Blick zurück: In Zeiten der Flucht, der Umkehr, des Aufbruchs ist er fatal. Er passt schlecht in Zeiten großer endzeitlicher Zukunftserwartungen. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ (Erich Honecker). Oder fromm formuliert: „Nun aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt! Wir gehn an unsers Meisters Hand, und unser Herr geht mit.“

Eine Geschichte, in der das soziale Akzeptanzproblem des Rückwärtsgehens anschaulich deutlich wird, kommt in dem absurd-komischen Western „The Ballad of Buster Scruggs“ der Coen-Brüdern vor. Bei einem Treck von Siedlern Richtung Westen dreht sich ein Junge, der neben dem Planwagen herläuft, auf einmal um und geht rückwärts. Auf die Frage seiner Mutter, was das denn solle, antwortet er: „Ich gehe jetzt rückwärts nach Oregon.“ Daraufhin scheuert ihm seine Mutter eine, und der Junge läuft wieder vorwärts.

Ich habe das Rückwärtslaufen dennoch ausprobiert – wie vieles andere, abgesehen von nächtlichen Kohlwickeln. Eine interessante Erfahrung. Und: Es hilft der Sehne tatsächlich, vor allem, wenn man bergab oder Treppen runter geht. Wie bei allem, was man tut, muss man es nur sehr überzeugt und selbstverständlich machen. Auf keinen Fall erklären oder gar rechtfertigen. Das erspart viele Fragen der Art: „Entschuldigen Sie, aber darf ich fragen, warum Sie rückwärts laufen?“ Falls sie doch kommen, hier ein paar mögliche Antworten: „Warum nicht?“ „Weil ich es kann.“ „Weil Rückwärtsgeher nachweislich intelligenter, klüger, kreativer sind, älter und weiser werden, glücklicher leben. Und überhaupt besseren Sex haben.“ Oder: „Nicht fragen, ausprobieren.“

Beim Rückwärtsgehen sieht man nur, was man hinter sich lässt, wovon man sich entfernt, nicht das, worauf man zuläuft. Eine körperliche Einübung in eine abschiedliche Existenz und die Kunst des Loslassens. Es steht quer zur zweckrationalen Zielorientierung, zur Fokussierung auf die Zukunft, zur Fiktion, wir könnten unser Leben wirklich vorhersehen, planen, kontrollieren. Eine konstruktive Irritation nicht nur der physiologischen Abläufe, sondern auch meiner Wahrnehmung, meines Denkens, meiner Einstellung: Ich komme voran, aber sehe doch immer nur, was ich zurücklasse.

Ein echter Akt des Vertrauens: Je länger ich gehe, desto mutiger werde ich. Trotz regelmäßiger Schulterblicke weiß ich nie sicher, was da kommt. Die Dinge tauchen erst kurz in meinem peripheren Sichtfeld auf – wenn ich sie dann deutlich sehe, sind sie schon wieder vorüber. Das Leben als Überraschungstüte.

Von Søren Kierkegaard stammt der weise Satz, dass man das Leben nur vorwärts leben und rückwärts verstehen kann. Zur Veranschaulichung dessen wird oft auf das Bild des Ruderers verwiesen. Die Richtung, in die er sich bewegt, liegt hinter ihm. Das Ziel im Rücken.

Was hier im Blick auf das einzelne Individuum formuliert ist, lässt sich entsprechend auch auf die Menschheit insgesamt anwenden. Walter Benjamin etwa hat dies angesichts der Schrecken von Krieg und NS-Terror im Blick auf die menschliche Geschichte getan. Im Jahr 1940 interpretiert er das Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee als „Engel der Geschichte“ und formuliert auf eindrückliche Weise, wie sich diese personifizierte heilende Kraft rückwärts fortbewegt, von ihrem Ursprung weg, und bei den immer neu auftauchenden geschichtlichen Katastrophen gar nicht mehr hinterherkommt:

„Er [d. h. der Engel der Geschichte, TL] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Ich glaube, dass „Rückwärtsgehen“ auch für unsere Zeit eine große Rolle spielt. Weil es in ihm – passend zum Reformationstag – um einen Akt des Sinneswandels, des Umdenkens, der Einkehr geht. Eine Kehrtwende, die paradoxerweise den Schritt nach vorn erst ermöglicht.

Wir feiern gerade 30 Jahre Wiedervereinigung. Zugleich gibt es Verständnisprobleme zwischen Ost und West. Auch weil wir vor allem im Westen nicht wirklich verstanden haben, was Menschen losgelassen haben, was hinter ihnen liegt und wie sich ein Leben in immer weiter schrumpfenden Regionen auf dem Land im Osten anfühlt.

Wir sprechen gegenwärtig – zu Recht – viel von dem, was auf uns zukommt: Digitalisierung, Globalisierung, ökologischer Wandel. Große Aufgaben politischer, kultureller, sozialer Zukunftsgestaltung. Zugleich gibt es der Studie „Die andere Teilung Deutschlands“ zufolge in Deutschland insgesamt neben 19 % Wütenden, die Migration prinzipiell ablehnen und dem System grundsätzlich misstrauen, 14 % Enttäuschte, die sich nicht wertgeschätzt fühlen, die nicht mitkommen, die sich eine gerechtere Gesellschaft wünschen. In diesen beiden Gruppen sind mehr als drei Viertel der AfD-Wähler angesiedelt. Angesichts von disruptiven Prozessen im Zuge der Digitalisierung werden diese Probleme nicht kleiner werden. Die Fragen des Umgangs mit den eigenen Herkünften werden auch aufgrund weiter zunehmender Migrationsbewegungen eine immer größere Rolle für alle Teile der Gesellschaft spielen.

„Rückwärtsgehen“: Vielleicht brauchen wir mehr Zeiten, in denen wir dies gemeinsam mit anderen tun. Nebeneinander rückwärtsgehen, den Blick auf unsere verschiedenen Herkünfte miteinander teilen, zusammen abschiedlich leben und sich gemeinsam in der Kunst üben, klug damit umzugehen, dass die Dinge immer wieder anders eintreten, als wir es erwartet haben. Das kann helfen, nicht nur die Sehne zu entlasten.

Zum Schluss etwas zwischen Gebet und Gedicht:

Zu Dir hin

Vielleicht.
Vielleicht können wir uns Dir, Gott,
nicht anders nähern
als rückwärtszugehen.
Unser Leben,
all das, was gewesen ist,
liebend, leidend, segnend
loszulassen.
Im Vertrauen darauf,
dass Du kommst,
ohne zu wissen, wie. (TL)

Theologische Impulse 38, von Dr. Thorsten Latzel