Seuchen, Pest und Schwarzer Tod. Fünf Dinge, die wir aus früheren Epidemien für den Umgang mit Covid-19 lernen können

17.3.2020

Thorsten Latzel

Dass es in einer global vernetzten Welt irgendwann zu einer Pandemie kommen würde, ist von Virologen schon lange vorausgesagt worden. Die Frage war nicht, ob, ...

Dass es in einer global vernetzten Welt irgendwann zu einer Pandemie kommen würde, ist von Virologen schon lange vorausgesagt worden. Die Frage war nicht, ob, sondern, wann und wie es geschehen würde. Mit SARS-CoV (2002/03), Vogelgrippe H5N1 (2004-2016), Ebola (2014-2016) oder Zika-Virus (2015/16) gab es auch in der jüngeren Zeit Epidemien in verschiedenen Teilen der Welt. Dennoch ist die Erfahrung einer weltweiten Pandemie mit einem so großen Gefährdungspotential für so viele Menschen und mit derart tiefgreifenden sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen eine neue Erfahrung für die große Mehrheit unserer Gesellschaft wie auch für mich persönlich. Gerade in wirtschaftlich und bildungsmäßig weit entwickelten Ländern herrschte weithin die Überzeugung, dass „Seuchen“ ein Problem früherer Jahrhunderte bzw. unterentwickelter Regionen seien. Angesichts der immensen naturwissenschaftlichen und speziell auch medizinischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte schien die Welt beherrschbar. Pandemien gehörten zum Repertoire von Katastrophen-Filmen (z.B. Outbreak – Lautlose Killer, 1995; Pandemic – Tödliche Erreger, 2007; Contagion, 2011) oder Romanen (z.B. Stephen King, The Stand, 1978; José Saramago, Die Stadt der Blinden, 1995). Für das eigene alltägliche Leben spielten sie weithin keine Rolle. Das war für mich wie für viele andere Menschen bis vor einigen Tagen noch so.

In der Geschichte der Menschheit gehören Seuchen, Pestilenz und „Schwarzer Tod“ aber zu den tief verwurzelten Leidens- und Schreckenserfahrungen. Epidemien und auch Pandemien tauchten in den verschiedenen Jahrhunderten immer wieder auf. Zu den großen Seuchen der Menschheitsgeschichte gehörte etwa die Justinianische Pest, die von 541-544 erstmals ausbrach, danach in periodischen Rhythmen bis 770 in Europa und Vorderasien immer wiederkehrte und als größte Epidemie der Antike zählte. Sie hatte weitreichende sozioökonomische und politische Wirkungen (Schwächung des oströmisch-byzantinischen Reichs) und wird u.a. mit dem Untergang am Ende der Antike verbunden. Oder der „Schwarze Tod“. Mit diesem Namen wird eine der verheerendsten Pestepidemien zwischen 1346 und 1353 bezeichnet, die sich von Asien aus im Zuge des mongolischen Friedens über Handelsrouten verbreitete und der vor allem in Europa etwa 20-25 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Dies war ein Drittel der damaligen Einwohnerschaft des Kontinents, wobei es große regionale Unterschiede gab und vor allem städtische Gebiete stärker betroffen waren.

Oder die „Spanische Grippe“ (1918-1920) am Ende des ersten Weltkrieges, die mit 25-50 Millionen Toten wohl eine der heftigsten Pandemien überhaupt war. Sie hatte ihren Ursprung in den USA, ihr Name kommt daher, dass in der Presse des neutralen Spaniens am offensten über sie berichtet wurde. Der Krankheitsverlauf war kurz und heftig („morgens krank, abends tot“), atypischer Weise erlagen ihr vor allem Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Besonders viele Soldaten waren von ihr betroffen.

Daneben gab es viele andere „Seuchen“, manche mit unklarem Erreger wie das Italienische Fieber (877/889) oder der Englische Schweiß (1485/86, 1507, 1517). Andere wie etwa die Pocken sind gerade im Zuge des europäischen Kolonialismus in andere Kontinente eingetragen worden und haben dort große Teile der indigenen Völker getötet, so etwa in Mexiko (1519/20; ca. 5-8 Millionen) oder in Nordamerika und Australien (1775-1780).

Nun ist zu Recht immer Vorsicht geboten, wenn unkritisch „Lehren aus der Geschichte“ gezogen und Erfahrungen aus sehr verschiedenen historischen Kontexten auf heute übertragen werden. Dies gilt besonders angesichts der wieder neuen Neigung zu machtpolitischen oder weltanschaulichen Geschichtskonstruktionen in unseren Tagen. Alle Untergangspropheten zum Trotz: Wir sind nicht in der Zeit von Cholera, Pest und „Schwarzem Tod“ – gerade, weil wir in einer informierten und medizinisch, ernährungstechnisch wie ökonomisch gut versorgten Gesellschaft leben.

Den Blick in die Geschichte empfinde ich als höchst heilsam, um das, was wir gegenwärtig erleben, im Horizont der Erfahrung von Menschen anderer Zeiten und Weltgegenden zu sehen. Die historische Kenntnis kann einen Beitrag leisten, manche aktuellen Phänomene besser einzuordnen und – trotz mancher starken Belastungen im Einzelnen – insgesamt ins rechte Maß zu rücken.

In diesem Sinne ein persönlicher Versuch von mir: Fünf Denkanstöße aus der Geschichte früherer Pan-/Epidemien – im Hinblick darauf, wie wir als Gesellschaft heute mit der Covid-19-Pandemie umgehen können und sollten.

1. Ein großer Dank für die wissenschaftliche Medizin und die Informationen unserer Tage

Während der Pest im Mittelalter ging man etwa davon aus, dass die Ansteckung durch faul riechende Dämpfe aus Asien oder dem Erdinneren entstünde (die sogenannte „Miasmen“-Theorie). Im Begriff des „Pesthauchs“ drückt sich dies noch aus. Man glaubte u.a., sie würde durch Luft übertragen, von der Schönheit junger Frauen angezogen oder durch Sternenkonstellationen begünstigt. Entsprechend waren auch die – vor allem von der Körpersäfte-Lehre Galens beeinflussten – Therapieempfehlungen gelagert: etwa mit Aderlass, Schröpfen oder dem Abbrennen aromatischer Substanzen. Weil man sich oft aber auch gar nicht zu helfen wusste, wurde Pestkranke etwa in Mailand in ihren Häusern zusammen mit ihren Angehörigen einfach eingemauert. Dass das vermehrte Auftreten von Ratten (bzw. der durch sie übertragenen Parasiten) etwas mit der Seuche zu tun hatte, wurde zwar zum Teil erkannt. Der Ursprung der Pest im Bakterium „Yersinia pestis“ war jedoch unbekannt und mithin auch eine wirksame medizinische Behandlung.
Da erscheint mir die laufende Information im digitalen Zeitalter über die neuesten Erkenntnisse etwa des Robert-Koch-Instituts, des Instituts für Virulogie an der Charité oder anderer Forschungseinrichtungen und die vorhandene medizinische Versorgung gerade in Deutschland oder Europa als ein wirklicher Segen. Wir sind gleichsam am Live-Ticker der Forschung, werden umfassend informiert und müssen uns eher darin üben, angesichts der Schnelligkeit der Informationen nicht atemlos zu werden. Seriöse medizinische Erkenntnisse brauchen ihre Zeit. Und Gesellschaften brauchen Phasen des Luftholens, um zu verarbeiten. Hier gilt es sich auch vor der Flut ständiger Breaking-news zu schützen.

2. Die Gefahr einer Suche nach Sündenböcken – als „soziale Folge-Seuche“

Es gehört mithin zu den menschlichen Urbedürfnissen, dass gerade in Zeiten großer sozialer Verunsicherung „irgendwie irgendjemand schuld sein muss“. Das kompensiert die Gefühle eigener Hilflosigkeit, schafft ein Aggressions-Ventil, entlastet scheinbar die kollektive Seele. So kam es beispielsweise im Mittelalter zu schrecklichen „Pest-Pogromen“ gegen Jüdinnen und Juden. Ihnen wurde Giftmischerei oder Brunnenvergiftung nachgesagt, die zu der Seuche geführt habe. Oder die Pest wurde gar als Strafe für ihre fehlende Bekehrungsbereitschaft angesehen. In der Folge kam es zur Vernichtung jüdischen Lebens in weiten Teilen Deutschlands und der Niederlande, zum Teil mit aufgezwungenen kollektiven Selbsttötungen, so etwa im Juli 1349 die jüdische Gemeinde von Frankfurt, wie schon vorher in Worms und nachher in Mainz – dort jeweils, indem sich die Jüdinnen und Juden in ihren eigenen Häusern verbrannten. Oft spielten bei den Verfolgern Habgier oder bestehende Schuldverhältnisse eine Rolle.
Gerade angesichts der Neigung zu Verschwörungstheorien in unseren Tagen, die durch die sogenannten sozialen Medien verstärkt werden, und einem vielfältig wieder erstarkten Antisemitismus und Rassismus halte ich es für unbedingt notwendig, jeder Suche nach „Sündenböcken“ in welcher Form auch immer entgegen zu treten. In der Sicht populistischer Nationalisten sind es erwartbar wieder die Anderen, die Fremden, die „bösen Migranten“, die man nur aus dem „gesunden eigenen Volkskörper“ heraushalten müsse, um dem Virus zu wehren.

3. Das religiöse Problem von Untergangspropheten und apokalyptischen Endzeit-Phantasien

In Zeiten von Pandemien und der mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Krise fühlen sich immer wieder obskure, (pseudo-)religiöse Personen berufen, ihre wirren Vorstellungen zu verbreiten. In der Krise sehen sie ihre Stunde gekommen. Der kollektive Schock und die fundamentale Verunsicherung breiter Teile der Gesellschaft zeige, so ihre Sicht, dass sie es schon immer gewusst hätten. Jetzt fühlen sie sich berufen, die Umkehr zu predigen. Und Religionen bieten durch ihre Geschichten und ihre Letztbegründung dazu oft ein entsprechendes Potential. So wurde etwa die Seuche im Lager der Griechen vor Troja auf die Pestpfeile des Apollon zurückgeführt. Im Mittelalter entstanden regelrechte Geißlerhorden (Flagellanten), die als religiöse Bußbewegung durch das Land zogen – und dabei selbst zur Verbreitung der Pest beitrugen. Die Pestheiligen St. Rochus und St. Sebastian erfuhren besondere Verehrung. Bis in die Epidemien der Neuzeit gehen die Erkrankungen mit apokalyptischen Erklärungsmustern einher, welche die jeweilige Krankheit als Strafe Gottes meist für irgendeinen moralischen, oft sexuellen Sittenverfall oder eine andere Form des modernen Lebens verstehen.
Auch im Fall der Covid-19-Epidemie geschieht es bereits und wird es geschehen, dass vermeintlich religiöse „Führer“ meinen, als Seuchen-Gewinnler ihre weltanschauliche Suppe auf Kosten des Leids anderer Menschen kochen zu können. Dem gilt es durch nüchterne Aufgeklärtheit und kluger Theologie zu begegnen.
Geht man von einem möglichen Ausbreitungsgrad im Zuge der Covid-19-Pandemie aus von 60-70% der Bevölkerung aus und einer Sterblichkeitsrate von 1-2%, dann werden wir (nach jetzigem Stand) allein in Deutschland zigtausende oder sogar hunderttausende von Menschen haben, die sterben werden. Hier braucht es – aus meiner Sicht als evangelischer Pfarrer – seelsorglich einfühlsame Begleitungen der Sterbenden und Trauernden von ihren Angehörigen und Vertreter/innen ihrer jeweiligen Religion. Und es braucht m.E. den Mut, die Frage nach dem „Warum?“ und der Verborgenheit Gottes im Leid auszuhalten. Für mich ist dabei die Hoffnung leitend, dass – im Blick auf Karfreitag und Ostern – Gott gerade an der Seite der leidenden Menschen steht. Und dass er uns in der Nachfolge Christi anleitet, im Leiden auch genau dort für einander einzustehen. Auch wenn ich nicht begreife, warum es so etwas wie Viren in Gottes Schöpfung überhaupt gibt.

4. Verantwortliche, soziale Gestaltung tiefgreifender wirtschaftlicher Folgen

Epidemien waren in den verschiedenen geschichtlichen Zeiten mit starken wirtschaftlichen Folgen verbunden. Dies führte etwa im Mittelalter zu massiven Einbrüchen der Landwirtschaft mit folgenden Hungersnöten, ab dem 19. Jahrhundert auch zu Problemen bei der industriellen Produktion oder beim Handel, weil die entsprechenden Arbeitskräfte fehlten. In den betroffenen Ländern Afrikas hatte die Ebola-Epidemie vor einigen Jahren oft verheerende soziökonomische Folgen. Zugleich förderten umgekehrt Seuchen oftmals auch die Entwicklung neuer Techniken, etwa des Buchdrucks im 14. Jahrhundert. Dies geschah aus der Not, dass es nicht mehr genug Menschen gab, die als Schreiber fungieren konnten. Auch die Medizin machte im Übergang zur Neuzeit einen Entwicklungssprung durch die Pest-Erfahrungen und das Scheitern der bisherigen Erklärungsmodelle. 1855 entdeckte wiederum der Arzt John Snow, dass die Cholera-Epidemie in Soho/London mit einer einzigen verunreinigten Wasserpumpe zusammenhing – mit entsprechenden Wirkungen für die Epidemiologie wie für die Wasserversorgung.
Die wirtschaftlichen Folgen bei der Corona-Krise sind angesichts einer global stark vernetzten Welt mit eng getakteten Lieferketten überhaupt noch nicht abzusehen. Bestimmte Wirtschaftsbereiche wie etwa Gastronomie, Logistik oder Tourismus sind bereits jetzt sehr stark betroffen. Das gleiche gilt für viele Freischaffende, Künstler/innen oder Kleinunternehmen, die durch die Corona-Krise oft vor ökonomisch existentiellen Problemen stehen.
Anders als in früheren Jahrhunderten wird daher eine wichtige Aufgabe darin bestehen, dies mit den Mitteln des Sozialstaates und einer klugen Wirtschaftspolitik sozial und verantwortlich zu gestalten und abzufedern. Dabei sollte zugleich der Umbau hin zu einer stärker ökologisch nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise gefördert werden. Kürzere Lieferketten und regionale Produkterzeugung sind epidemiologisch wie ökologisch sinnvoll. Sie zu stärken, wäre etwas Gutes in der Krise.

5. Die große Bedeutung alltäglicher Abläufe, persönlicher Haltung und sozialer Pflichten

Gerade angesichts der Unklarheit der Krankheitsursachen, fehlender Informationen und der massiven Verunsicherung brach in früheren Zeit oft die Autorität von Obrigkeit, Religion und Wissenschaft zusammen. Sie alle konnten einen damals offensichtlich nicht vor der jeweiligen „Seuche“ bewahren. Es kam mitunter zum Zusammenbruch des Alltags mit Phänomenen sozialer Gleichgültigkeit und todesnahen Exzessen. Eine eindrückliche Schilderung davon gibt – wieder im Blick auf die Pestepidemie des 14. Jh. – Boccaccio in seiner Novellensammlung „Decamerone“. Er berichtet darin als einer der wichtigsten Augenzeugen vom Wüten der Pest in Florenz, die dazu führte, dass Eltern sich nicht mehr um ihre Kinder kümmerten, Kranke keine Pflege erfuhren, Menschen jegliche soziale Pflicht gegenüber ihren Verwandten, Freunden und Nachbarn vernachlässigten. Als Rahmenhandlung wird erzählt, wie sich sieben junge Frauen und drei junge Männer vor der Pest in ein Landhaus flüchten und sich zehn Tage lang durch die Erzählung von Geschichten unterhalten. Die sexuelle Freizügigkeit, Sinnesfreude und derbe Tragik-Komik der Novellen bilden dabei – wie in einem Totentanz – eine Reaktion auf die Erfahrungen der Pest. Wie ein „memento mori“ bildet sie den Hintergrund zu den insgesamt hundert einzelnen Erzählungen.
In der Zeit der beginnenden Quarantäne bei der Covid-19-Pandemie ist es daher wichtig, als Einzelner wie als Gesellschaft Haltung zu zeigen. Dazu gehört es etwa, für einander dazu sein, ohne einander zu nahe zu kommen. In Ausnahme-Zeiten bekommen geregelte Alltagsabläufe und Riten eine umso größere Bedeutung. Zugleich bedarf es einer Kreativität, um sie unter veränderten Bedingungen fortzuführen. Dafür bietet aktuell sicher die Kommunikation auf digitalem Weg einen (wenn auch nicht vollumfänglichen) Ersatz. Es ist die Hoffnung und Aufgabe, dass die Corona-Krise zu einem gestärkten sozialen Miteinander beiträgt – und das Beste von dem weckt, was in uns steckt.
Ich halte es für eine der zentralen Aufgaben unserer Tage, dass wir individuell wie gemeinschaftlich gleichsam unsere „positiven Gegen-Geschichten“ leben, erzählen, schreiben. Und dass wir so gemeinsam dazu beitragen, den Unterschied einer demokratischen, aufgeklärten und freiheitlichen Zivil-Gesellschaft zu früheren Zeiten zu markieren.

Meine Hoffnung ist, dass die Covid-19-Pandemie – bei allem, was einmal sonst noch über sie zu sagen sein wird – in die kollektive Erinnerung eingehen wird als die Zeit, in der die Menschen in besonderer Weise für einander dagewesen sind und in der die Gesellschaft sich zum Besseren entwickelt hat. Dafür haben wir m.E. bessere Voraussetzungen als in vielen anderen Zeiten und Weltgegenden.

Queres aus der Quarantäne 2, von Dr. Thorsten Latzel

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