Spiegelblicke in der Kastanienzeit. Über schöne Vergänglichkeit

6.9.2019

Thorsten Latzel

Kastanienzeit In den letzten Wochen hatte Gott wieder Braun im Sonderangebot. Schön, glänzend, prall lagen sie auf den Wegen und Wiesen. Auch bei uns zu Hause ...

Kastanienzeit

In den letzten Wochen hatte Gott wieder Braun im Sonderangebot. Schön, glänzend, prall lagen sie auf den Wegen und Wiesen. Auch bei uns zu Hause im Viertel. Kastanien – kleine Edelsteine des Herbstes. „Da, Mensch, für Dich. Freu Dich daran.“ Zugleich wirken sie auf mich immer wie „Melancholie-Murmeln“ – vielleicht, weil ich im Herbst geboren bin. Sie erinnern mich an Vergangenes, meine eigene Kindheit: Stöcke in die Bäume werfen. Sammeln, bis die Taschen platzen. Kastanien-Tiere mit Streichhölzern basteln. Wie oft habe ich dieses Herbst-Schauspiel schon bewusst erlebt? 30-, 40-, 50- mal? Und wie oft werde ich es noch erleben?

„Unser Leben währet siebzig Jahre,
und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre,
und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe;
denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ (Psalm 90,10)

Ein türkischer Freund hat mir einmal erzählt, dass er den Herbst in Deutschland besonders liebe, weil es so etwas in seiner früheren Heimat nicht gegeben habe. Einen langsamen Übergang zwischen Sommer und Winter. Eine Zeit „schöner Vergänglichkeit“. „Blues-Tage“ zum Spazierengehen, Kastanien-Sammeln, Tee-Trinken, Bücher-Lesen, Garten-Aufräumen, Musik-Hören, nochmal Tee-Trinken. Und zum Nachdenken. Um über die Welt, das Leben und mich selbst in Ruhe nachzudenken.

Drei Spiegelblicke

1. Morgens
Einer der ersten Blicke am Morgen geht in aller Regel zum Spiegel. Gefällt es mir, was ich da sehe? Die Haare werden weniger oder grau. Dafür wächst das Doppelkinn. Falten um die verschlafenen Augen. Ich sehe müde aus.

Oder geht es mir wie Narziss? Kann ich mich von der Schönheit meines Bildes kaum losreißen? „Also, wenn ich Du wäre, würde ich mich glatt in mich verlieben.“

Der gespiegelte Mensch, reflektiert in sein eigenes Auge. Was ich sehe, ist das Bild eines Menschen, wie er das Bild eines Menschen sieht – und sich fragt, wer er selber ist. Was ich sehe, bin aber nicht ich. Es ist uns Menschen unmöglich, uns wirklich selber zu sehen. Denn Spiegel lügen. Immer. Sie sind verkehrt, sprichwörtlich „spiegel-verkehrt“. Um sich selbst zu erkennen, wirklich zu erkennen, braucht es ein Angesicht, keinen Spiegel. Das gehört zu den zentralen Einsichten des Glaubens, dass wir uns selbst und allen anderen zeitlebens ein Geheimnis bleiben. Weil Gott allein den Menschen erkennt – das, was ihn im Innersten ausmacht und ihm selbst weithin verborgen ist. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.“ (1. Sam 16,7)
2. Abends
Vor ein paar Jahren im Fitness-Studio: Bei Pulsschlag 140 auf dem Cross-Trainer kommt Kelly, mein damaliger Fitness-Trainer, zu mir. Kelly weiß, dass ich bei der Kirche arbeite. Er erzählt mir von seinem Wien-Urlaub. „Weißt Du, Thorsten, ich habe mir da auch ein paar Kirchen angesehen – orthodoxe, katholische, evangelische. Bei Euch ist es ja eher etwas, nun, sagen wir mal – kahl.“ Ich keuche etwas, was wie eine Antwort klingt. Versuche mit meinem wenigen Rest-Atem die Schönheit protestantischer Kargheit zu erläutern. Der Puls ist jetzt eh dahin. Dann wieder Kelly. „Eine Frage habe ich aber noch. Mit Bitte um eine kurze Antwort: Was ist Gott?“ Als ich meiner Frau am nächsten Morgen davon erzähle, sagt sie: „Wie – und du bist schon wieder da?“

Meine Antwort damals war, glaube ich, eine typische Theologen-Antwort:

– Gott als das Geschehen einer schöpferischen Liebe, die das ganze Leben – Menschen, Tiere, Welt – umfasst.
– Eine Liebe, die im Kreuz Christi alle Werte auf den Kopf stellt.
– Und eine Liebe, die am Ende stärker ist selbst als der Tod.

Doch soviel ich auch geredet habe, spürte ich, dass der Frage eine Kraft innewohnte, die die Antwort nicht besaß. „Was ist Gott?“ Und es ist wohl kein Zufall, dass die Frage von einem Menschen kommt, der sich Tag aus Tag ein in einem Raum mit Wänden voller Spiegel bewegt. „Was ist eigentlich Gott?“ Es gehört zu den tiefen Einsichten der Reformatoren, dass das Geheimnis des Menschen und das Geheimnis Gottes unlöslich miteinander verwoben sind. Vielleicht lässt sich Gott am treffendsten beschreiben als „der eine und einzige, der mich und alle anderen wirklich erkannt hat“. Und bei dem Erkennen ganz im biblischen Sinne immer auch ein Akt des Liebens ist.

3. Im Film
Robert Redford drehte als Regisseur 1988 den wunderschönen, mit einem Oscar prämierten Film „Milagro. Krieg im Bohnenfeld“. Er spielt in New Mexico und handelt von dem Kleinbauern Joe Mondragon, der sich gegen ein touristisches Großprojekt wehrt, indem er unerlaubter Weise Wasser auf das ausgedörrte Bohnenfeld seiner Väter leitet. Als Rahmhandlung der Geschichte wird erzählt, wie der alte Amarante Cordova zum Heiligen wird. Der Film beginnt damit, dass der alte Amarante in seiner ärmlichen Hütte aufwacht. Mühsam schafft er es, aus dem Bett aufzustehen und bis zu dem fleckigen, an vielen Stellen schon blinden Spiegel zu gehen. Seine letzten Haare stehen wirr zur Seite ab, seine Brille sitzt schief im Gesicht, sein Unterhemd spannt über seinem Körper. Und dann sagt er den ersten Satz des Films: „Ich danke dir Gott, dass ich diesen Tag erleben darf.“ Es ist eine faszinierende Szene der Dankbarkeit und des Gotteslobes angesichts menschlicher Vergänglichkeit. Vielleicht, weil es die Weisheit eines Heiligen braucht, um sich selbst für einen Moment mit den Augen Gottes sehen zu können. Allen Täuschungen des Spiegels zum Trotz.

Was ist Gott?

Der tiefe Grund für das Wunder,
dass es die Welt und dich und mich gibt.
Die letzte Hoffnung gegen den Zweifel,
wenn du und ich einmal nicht mehr sein werden.
Das lächelnde Angesicht dereinst,
in dem wir uns einmal so erkennen werden,
wie wir in Liebe erkannt sind. (TL)

Kastanien

Wunder zum drüber Stolpern
Melancholie-Murmeln
Guerillataktik des Schöpfers,
um uns die Augen zu öffnen
für die Schönheit des Vergänglichen. (TL)

 

Theologische Impulse 35, von Dr. Thorsten Latzel