Über das Zählen und Spalten von Haaren

17.5.2020

Thorsten Latzel

Der Gang zum Frisör gehörte für viele zu dem, was sie in der Zeit der kollektiven Quarantäne – neben zahlreichem anderen – besonders vermisst haben. ...

Der Gang zum Frisör gehörte für viele zu dem, was sie in der Zeit der kollektiven Quarantäne – neben zahlreichem anderen – besonders vermisst haben. Und zu den ersten Dingen, die sie dann nachgeholt haben. Dazwischen gab es acht, neun Wochen lang ein Kollektiv wuscheliger Haare. Bei Freunden, im Fernsehen, auf Facebook sah man, wie Frisuren sich nach und nach anarchisch auflösten. Und zum besonderen Schreck auch im eigenen Spiegel. Nach dem Shutdown kam dann der Cutdown. Fransen-Pony, Locken, Long Bob, Zöpfe, Pixie Cut, Zöpfe sind geschnitten und hergerichtet. Jetzt ist die Zeit, sich wieder in die Haare zu kriegen.

Die einen raufen sie sich, weil sie nicht verstehen, wie manche den gemeinsam erreichten Erfolg der Quarantäne nicht erkennen („Präventions-Paradox“) und ihn jetzt leichtfertig aufs Spiel setzen. Die anderen halten viele Statistiken für Haar-Spaltereien, angesichts derer man die massiven Kollateralschäden aus dem Blick verliert. Um der Gefahr diskursiver Verhärtungen zu entkommen, können manchmal kulturelle Umwege hilfreich sein. Daher hier ein paar Gedanken zu Haaren im Allgemeinen und ihrer gesellschaftlichen bzw. geistlichen Bedeutung im Besonderen.

In einer meiner aktuellen Lieblings-Serien „Fleabag“ – über die zotigen Sprüche am Anfang muss man etwas weghören – gibt es eine großartige Szene im Frisör-Salon. Die Hauptperson Fleabag (deutsch „Flohsack“), gespielt von Phoebe Waller-Bridge, stürmt mit ihrer Schwester Claire in den Laden, um Anthony, den Besitzer, rund zu machen, weil der Claires Frisur verdorben habe (2. Staffel, Folge 5):

Anthony: „Ich kann nichts für deine falschen Entscheidungen. Haare sind nicht alles.“

Fleabag: „Haare sind sehr wohl alles. Wir wünschten, es wäre nicht so. Damit wir auch mal an etwas Anderes denken könnten. Aber sie sind alles. Es ist ein Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Tag. Sie sind ein Symbol für Macht. Sie sind ein Symbol für Fruchtbarkeit. Dafür werden Menschen ausgebeutet. Und du verdienst deine Kohle damit. Haare sind sehr wohl alles. Anthony!“

„Haare sind alles.“ Haare stehen dafür, wie andere Menschen uns ansehen. Sie symbolisieren, zu welcher Gruppe wir gehören, welchen Status wir haben, wie es mit unserer Jugendlichkeit aussieht. Voll oder fisselig, Locken oder Glatze, good oder bad hair-day. Interessanter Weise ist es gerade der Frisör, der dieser Bedeutungsaufladung widerspricht. Noch einmal Anthony: „Wenn du dein Leben ändern willst, ändere dein Leben. Hier drin geschieht’s nicht.“

„Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt.“ (Matt 10,30) In den Evangelien steht der Satz für die tiefe Gewissheit, von Gott bis ins Kleinste behütet und beschützt zu sein. Nach der Logik, die vom Kleineren auf das Größere schließt (a minori ad maius): Wenn sogar schon die Haare gezählt sind, von denen ganz normal täglich bis zu hundert ausfallen, wie viel mehr der ganze Mensch? Im Kontext des Satzes geht es um Verfolgung, Unterdrückung, Leiden. Und um die Frage, wovor wir uns als Menschen fürchten sollten und wovor nicht. In der Hinsicht können Haare als Maßstab hilfreich sein, um in Krisen-Situationen das Große vom Kleinen zu unterscheiden. Und um manche Maßstäbe zurechtzurücken: Worüber rege ich mich auf, was fürchte ich – und was nicht?

Haare stehen dabei zugleich für eine veränderte Wahrnehmung. Auch dort, wo Leben uns als Menschen vergänglich, klein, nichtig erscheinen mag: In der Perspektive Gottes sieht es anders aus. Die Haare sind gezählt. Bei anderen wie bei mir selbst. Und auch dann noch, wenn sie fahl und grau sind. Oder in der barocken Sprache Paul Gerhardts: „Kein Zähr- und Tränlein ist so klein, du hebst und legst es bei.“

Nun gehöre ich zu der Gruppe von Menschen, bei denen Gott mit dem Zählen deutlich schneller fertig ist als bei anderen. Hair loss happens. Diese nicht wirklich belastende Tatsache führt mich zu einer anderen, wichtigen Pointe der Aussage: Gott bewahrt nicht vor dem Leiden, sondern im Leiden. Leiden sind Teil unseres Lebens. Auch Pandemien gehören dazu. Leider. Und ich halte es für ein narzisstisches Missverständnis, wenn Vertreter verschiedener Religionen tatsächlich geglaubt haben, dass ihr Glaube sie immun mache. Gerade so haben sie zur Verbreitung und zum Leiden anderer beigetragen. Im Glauben geht es darum, Leiden aller Geschöpfe – soweit es in unserer Macht steht – zu vermeiden, zu lindern, zu beheben. Sich von den verlorenen Haaren der anderen berühren zu lassen. Das betrifft die Leiden, die unmittelbar durch das Virus verursacht werden, ebenso wie die Leiden, die durch die Schutzmaßnahmen verursacht werden. Und es ist gut, wenn uns die Sorge umeinander nicht auseinandertreibt. Dabei wird es sicher weiter unterschiedliche Einschätzungen geben. Das ist gut so in einer offenen-demokratischen Gesellschaft, in der wir gemeinsam nach der relativ besten unter allen problematischen Lösungen suchen.

„Haare zählen statt spalten.“ Vielleicht kann ein Gang zum Frisör ja auch dazu beitragen, dass wir den notwendigen Streit gepflegt, kultiviert und in hoher Wertschätzung voreinander führen.

Tischgebet, anders

Bewahre mich, Gott,
vor der Suche nach dem Haar
in der Suppe.
Es sei denn,
um andere oder mich selbst
vorm Verschlucken zu bewahren.

Ideologischer Spliss

Es ist erstaunlich,
dass 0,05 mm dicke Haare
sich immer noch weiter spalten.
Das schaffen sonst nur Menschen
im Alleinbesitz der Wahrheit. (TL)

Theologische Impulse 56, von Dr. Thorsten Latzel