Und die Wahrheit wird euch frei machen

9.2.2020

Thorsten Latzel

Gegen die Wahrheit kann man ja eigentlich nichts wirklich haben. Nein, ehrlich. Sie lügt, trügt, irrt nicht. Auch flucht, raucht und trinkt sie nicht. O.K. ...

Gegen die Wahrheit kann man ja eigentlich nichts wirklich haben. Nein, ehrlich. Sie lügt, trügt, irrt nicht. Auch flucht, raucht und trinkt sie nicht. O.K. – manchmal wirkt sie vielleicht ein bisschen langweilig, geradezu „protestantisch“: so klar, nüchtern, korrekt. Aber das ist an sich ja auch nicht schlecht. Hat ja was. Sie ist die Korrektheit in Person – die Übereinstimmung von Begriff und Sache, von verschiedenen Lehrsätzen miteinander, von Wort und Tat. Konsistent, kohärent, konsensual, korrespondierend. „Was wahr ist, muss wahr bleiben.“ Doch: Was macht die Wahrheit eigentlich so den ganzen Tag – außer Recht zu haben und rein und lauter und ehrlich zu sein? Und sich vielleicht (mit Pilatus) händewaschend zu fragen, was oder wer sie eigentlich selber ist?

Und Jesus sprach […]: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8, 30ff.)

Das nenn ich nun wirklich eine Tat, die der Wahrheit würdig ist: „Und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Die Wahrheit (griech. aletheia) als das, was Freiheit (griech. eleutheria) schafft. Wahrheit als Befreiung, als Freispruch: wirksam, gültig, effektiv. Und folgt man dem Spruch Jesu, bedürfen dieser wahren Freiheit nicht nur die unwissenden, ungläubigen Anderen, sondern gerade die Jünger: diejenigen, die schon längst an Christus glauben und mitunter meinen, Gott besser zu kennen als er sich selbst.

Die Wahrheit als Freiheit, als wahre Freiheit. Die wahre Freiheit, die den Glaubenden mit entblößter Brust über die Barrikaden seiner eigenen religiös-moralischen Gerechtigkeit führt. Die aus den Erinnyen, den rasenden Rachegöttinnen des eigenen, anklagenden Gewissens, Eumeniden, Wohlgesinnte, werden lässt. Freiheit von der gnadenlosen Stimme in mir selbst, der ich nie genug bin.

Wahrheit als Freispruch. Für den kleinen, einsamen Zöllner oben auf dem Baum (Lk 19,1-10): „Steig eilend herab. Denn ich muss heute in deinem Hause einkehren.“ Der Freispruch aus der selbst verschuldeten Einsamkeit und von der Sorge um sich selbst, um den eigenen Reichtum, um die eigenen Grenzen: „Es ist genug für alle da.“

Wahrheit als Freispruch. Für den gelähmten Mann auf der Trage (Luk 5,17-26): „Steh auf, nimm dein Bett und geh heim.“ Der Freispruch von den Krücken der eigenen Schwachheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit: „Du kannst deinen eigenen Weg gehen.“

Wahrheit als Freispruch. Für die vielen, die an der Welt, sich selbst, den anderen schier verzweifeln – und die dennoch Gott nicht loslassen. Als eine Gegenwirklichkeit zur immer wieder drohenden Hoffnungslosigkeit: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast.“

Der Autor Heinrich Steinfest hat die Gleichnisse und Geschichten Jesu einmal als „kreative Bomben“ bezeichnet. Sie sperren sich gegen unsere moralische Vereinnahmung, detonieren in unserer Dogmatik, sprengen unsere wohlfeilen Bilder von Gott, uns selbst und unseren Mitmenschen. Und schaffen so den Freiraum, in dem sich wahrhaft wundersame Dinge ereignen können.

Eine der schönsten „Kreativ-Bomben“ im Kontext der Wahrheit, finde ich, ist dabei die Geschichte vom „unehrlichen Verwalter“ (Lk 16, 1-8).

„Jesus sprach aber auch zu den Jüngern: „Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz. Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: ‚Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.‘
Da sprach der Verwalter bei sich selbst: ‚Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln. Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde.‘ Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: ‚Wie viel bist du meinem Herrn schuldig?‘ Der sprach: ‚Hundert Fass Öl.‘ Und er sprach zu ihm: ‚Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig.‘ Danach sprach er zu dem zweiten: ‚Du aber, wie viel bist du schuldig?‘ Der sprach: ‚Hundert Sack Weizen.‘ Er sprach zu ihm: ‚Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig.‘ Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.“

Ein Verwalter wird also verklagt – ob’s wahr ist oder gelogen, man weiß es nicht – er wird verklagt, Hab und Gut seines reichen Herrn zu verschleudern. Als dieser ihn daraufhin auffordert, Rechenschaft abzulegen, verschleudert er es dann tatsächlich. Und zwar so richtig. Eine selbst-erfüllende Anschuldigung. Er stiftet die Schuldner des Herrn an, ihre Schuldscheine zu dessen Lasten zu fälschen, um sich für sich selbst bei den Schuldnern einen Vorteil zu verschaffen. Und was tut der Herr? Er lobt den unehrlichen Verwalter – wegen seines unehrlichen Verhaltens. „Und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Da detoniert’s im Theolog/innen-Kopf. Der offensichtliche Betrug, die Lüge wird zur Wahrheit, weil …
Ja, weil was?

– Weil der Verwalter die irrealen Schuldenberge einer Wirtschaftsordnung, die nicht auf Rückzahlung, sondern auf bleibende Abhängigkeiten angelegt sind, auf ein realistisches, wahrhaftiges Maß zurecht stutzt?

– Weil er die Güter seines Herrn ihrer wahrhaftigen Verwendung zuführt: weil sie eben nicht zweckfrei besessen, sondern zum Wohle der Menschen, zu seiner Befreiung, verwendet werden sollen?

– Weil der Verwalter die religiöse Unerfüllbarkeit des göttlichen Gesetzes erkennt und sich in einem paradoxen Akt daraus heraus in die liebende Selbsthingabe an den Nächsten flüchtet?

Ich glaube, dass die Geschichte so funktioniert, dass an ihrem Ende die falschen Bedingungen ihres Anfangs umgedreht werden. Eine Art theologisches Möbiusband. Ein zur Rechenschaft geforderter Knecht handelt, als wäre er selbst der Herr des Besitzes. Und er wird am Ende dafür gelobt – weil er nämlich eigentlich gar kein Knecht ist.

„Und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Die Geschichte ergibt keinen Sinn und keine Wahrheit, solange der Verwalter Knecht bleibt. Sein trügerisches Verhalten deckt die Falschheit der Unfreiheit-Prämisse in seinem Kopf, seinem Herzen, seinem Selbstbild auf. Wie in den Köpfen, Herzen und Selbstbildern der Zuhörenden. Und sie führt so zu einer Wahrheit anderer Ordnung: „Ein Christenmenschen ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem Untertan.“ (M. Luther) Er ist ein Gotteskind und kein kleinlicher Verwalter. Wie auch der Herr der Geschichte kein kleinlicher Kontrolleur ist. Gott als die Wahrheit selbst ist der Grund unserer Freiheit.

Wahr ist, was Gott und den Menschen frei macht. Wahrhaft frei – auch und gerade von den religiösen Trugbildern des eigenen Selbst.

Befreiende Wahrheit

Weil Du die Wahrheit bist,
mach mich frei
vom Krampf des Recht-haben-Müssens
und von den Waschzwängen meiner Seele.
Lass mich aufhören, Dich besitzen zu wollen.
Lass mich beginnen, aus Dir zu leben.
Auf dass wir gemeinsam frei werden.
Der wirkliche Feind von Dir
sind nicht meine Zweifel.
Mit ihnen kommst Du klar.
Es ist vielmehr mein ungläubiges Verzweifeln
an der Größe Deiner Freiheit in uns. (TL)

Theologische Impulse 49, von Dr. Thorsten Latzel