Unsere Mönchsgrasmücke hat eine Meise

19.1.2020

Thorsten Latzel

Vor dem Fenster unserer ältesten Tochter singt jeden Morgen ein Vogel. Das ist an sich noch nicht verwunderlich. Aber dieser Vogel tut es mitten im ...

Vor dem Fenster unserer ältesten Tochter singt jeden Morgen ein Vogel. Das ist an sich noch nicht verwunderlich. Aber dieser Vogel tut es mitten im kältesten Winter. Er zwitschert, schmettert, tiriliert aus voller Vogelkehle, als wäre er im Wonnemonat Mai. Meine Frau, die sich mit ornithologischen Fragen besser als ich auskennt, vermutet, dass es eine Mönchsgrasmücke sein könnte. „Die singen, als wären sie ‚ganz Große‘, mindestens eine Amsel, dabei sind sie nicht größer als eine Blaumeise.“ Leider bekommen wir unseren Vorgarten-Caruso nie zu Gesicht, da ihn – oder sie – das Hochziehen des Rollos verschreckt.

Auf der Homepage von NABU gibt es einen instruktiven Wintervogel-Steckbrief zur sylvia atricapilla, so sein wissenschaftlicher Name. Die Bezeichnung spielt auf ihr äußeres Erkennungszeichen an: die Grasmücke (sylvia) mit dem „Schwarzköpfchen“ (atricapilla), was eben einer Mönchskappe ähnele. Bei den Weibchen und Jungvögeln ist das Köpfchen rotbraun, bei den Männchen schwarz. In Österreich und Bayern heißt sie daher auch „Schwarzplattl“.

Und wie bei vielen Dingen im Leben: Je länger ich mich mit dem kleinen Zweigsänger beschäftige, desto faszinierender finde ich ihn. Er singt je nach Region gleichsam in verschiedenen Dialekten. Dabei ahmt er verschiedene andere Vögel und Alltagsgeräusche nach: Motoren, Radiomusik, Klingeltöne vom Smartphone. Ob das Ganze wirklich nur der Balz dient, ist unklar, zumal auch Weibchen singen und eben nicht nur zur Paarungszeit.

Aber was will uns unsere Mönchsgrasmücke nun eigentlich mit ihrem eigenartigen winterlichen Gesang sagen?

Möglicherweise ist es ja ein ornithologisches Protestlied gegen den Klima-Wandel: also mehr Bob Dylan als Caruso. Auch wenn die Mönchsgrasmücke selbst wegen ihrer Anpassungsfähigkeit wohl eher zu den Krisengewinnerinnen des menschengemachten Klimawandels gehört. Einige von ihnen überwintern nicht im Süden, sondern auf den britischen Inseln und können wegen der milderen Winter immer früher zurückkehren bzw. ganz hierbleiben. Ihr unzeitgemäßer Gesang wäre so eine Mahnung, lauthalser Protest gegen die menschen-gemachte Veränderung der Natur im Anthropozän.

Vielleicht macht sie sich als „Migrantin der Lüfte“ auch über den Brexit lustig: „Was ist eigentlich genau euer Problem mit uns Migrant/innen aus Osteuropa?“ Ich möchte nicht wissen, was die Mönchsgrasmücken von uns Menschen denken würden, wenn sie tatsächlich verstünde, was politisch in Europa die letzten Jahre abläuft. Die Spottdrossel lässt herzlich grüßen.

Oder aber ihr winterlich schöner Gesang spiegelt etwas von dem, was Paulus als „Seufzen“ und „ängstliches Harren der Kreatur“ beschreibt, die darauf hofft, dass die Kinder Gottes offenbar werden (Röm 8,18-22). Nur, dass wir Menschen hier eher Grund der Klage an den Schöpfer wären als Anlass zur Hoffnung.

Manche Texte der Bibel gewinnen in bestimmten Zeiten einen neuen Sinn. Dazu gehört für mich gegenwärtig die Verheißung des Tierfriedens. Es ist, wie ich finde, eines der schönsten Hoffnungsbilder der kommenden Welt:

„Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter.“ (Jes 11,6-8)

Es ist gut, wenn wir neben den weit verbreiteten Untergangsszenarien positive Zukunftsbilder haben. Hoffnungsbilder, die uns als Menschen – gleich welcher Generation und Herkunft – kritisch an unsere besondere Stellung und unseren Auftrag zur Bewahrung von Gottes Schöpfung erinnern. Auch wenn wir als Menschen diesen endzeitlichen Tierfrieden aus unserer Kraft niemals selber erreichen können, wäre es gut, wenn wir Gott dabei zumindest mehr Hilfe als Hindernis sind. Und wenn wir versuchen, möglichst viele Schöpfungsarten zu erhalten, mit denen solch ein Frieden einmal erfahren werden kann.

Was auch immer unsere winterlich singende Mönchsgrasmücke nun singen mag, ich höre daraus die kritische Frage: „Wer hat hier eigentlich eine Meise?“

Tierfriede

Die Alten hatten einst die Hoffnung,
dass ihre Kindeskinder einmal ohne Furcht mit
Bärin, Löwe und Natter spielen können.
Heute müssen wir die Hoffnung wahren,
dass unsere Kindeskinder einmal
Bärin, Löwe und Natter erleben werden.
Am Ende bleiben sonst nur
Chicken Wings, Kätzchen, Ratten und Schaben.
Der Friede mit den Tieren ist allzu oft
zum Totenfrieden geworden.
R.I.P.: 1 Millionen Arten
in den nächsten Jahrzehnten.
Das war anders gedacht.
Vielleicht ist es weniger am Löwen,
mehr an uns, das Verhalten zu ändern. (TL)

Theologische Impulse 46, von Dr. Thorsten Latzel