Vermisste Klänge. Kirchenmusik in Zeiten von Corona

2.5.2020

Thorsten Latzel

Kurz vor dem Shutdown fand vom 4. bis 5. März dieses Jahres in der Evangelischen Akademie Frankfurt eine Tagung der Direktorenkonferenz Kirchenmusik zur Zukunft der ...

Kurz vor dem Shutdown fand vom 4. bis 5. März dieses Jahres in der Evangelischen Akademie Frankfurt eine Tagung der Direktorenkonferenz Kirchenmusik zur Zukunft der Kirchenmusik statt mit dem vielsagenden Titel „Alles im Fluss“. Durch die Corona-Zeit und den Ausfall aller Gesänge, Konzerte und kirchenmusikalischer Veranstaltungen ist mir deutlich geworden, wie sehr uns auch hier als Gemeinschaft etwas kollektiv fehlt. „Vermisste Klänge“: die Möglichkeit, gemeinsam zu singen, gerade auch dann, wenn einem die Worte fehlen. Sich von der Musik tragen zu lassen, wenn es einem schwerer ums Herz wird. Sich mit anderen vielstimmig und doch (zumindest meistens) harmonisch als Gemeinschaft zu erfahren. Das gleichzeitige Musizieren aus verschiedenen Kirchen und Häusern, das während der kollektiven Quarantäne in vielen Gemeinden stattfand, war ein schönes und starkes Zeichen, aber kein wirklicher Ersatz. „Kunst und Kultur sind keine verzichtbare Nebensache“, sie sind „Lebensmittel“ (Frank-Walter Steinmeier).

Im Wonnemonat Mai, der in diesem Jahr mit den Sonntagen Jubilate („Lobet“) und Kantate („Singet“) beginnt, wird das, was uns fehlt, noch deutlicher erfahrbar. Auch wenn jetzt die ersten Gottesdienste wieder starten, wird hier eine Lücke bleiben. Weil paradoxerweise gerade der gemeinsame Gesang, mit dem sich Menschen wechselseitig stärken, weiterhin das ist, was andere jetzt gesundheitlich gefährdet. Solange die Gemeinde mit Mundschutz stumm bleibt, werden wir etwas geistlich vermissen.

Daher hier zumindest gedanklich eine kleine Hommage an die Kirchenmusik – in Form einer erzählerischen Erinnerung an ihre Anfänge zur Zeit Davids und eines kleinen, unfertigen Wunschzettels für die Zeit danach.

1. „Le David“

Dein Musikspiel hast du gelernt – allein, draußen, in den Steppen Judas. Als du auf die Schafe geachtet hast und sie vor Löwen und Räubern schützen musstest. Wüstengeborene Melodien: nachts gespielt, als niemand dir zuhörte – außer Gott, der Herde und den wilden Tieren. Du hast gespielt, um ihn zu loben, sie zu beruhigen, die anderen zu vertreiben. „In Einsamkeit mein Sprachgesell.“ Helle Klänge gegen das Dunkle – in dir, um dich, über dir.

Deine Musik, dein Mut, dein mutiges Spiel haben dich an den Hof gebracht. Selbst Riesen konnten deinen Glauben nicht schrecken. Ihn, den König, dagegen hast du besänftigt, von seinem bösen Geist geheilt. Deine Musik war Therapie der Mächtigen – zumindest für einige Zeit. Bis der König spürte, welche Macht nicht nur von deinem Gesang ausging. Bis du selbst zu dem wurdest, über den die Frauen ihre Lieder sangen: „Saul hat tausend erschlagen, aber David zehntausend.“

Deine Musik war bei dir, als du fliehen musstest. Deine Gotteslieder wurden tiefer, dunkler, reifer, als du Freischärler warst: in den Höhlen, auf der Flucht vor dem eigenen König, im Dienst der Feinde. Als du um dein Überleben kämpfen musstest – körperlich, seelisch, moralisch. Doch du hast dein Wort gehalten: hast Israel nicht verraten; ihn, den Gesalbten, nicht getötet, als er zweimal in deinen Händen war; hast geklagt, als er mit seiner Familie starb und du gewonnen hast.

Deine Musik wurde voller, mächtiger, prächtiger in der Zeit, die dann kam. König über Nord- und Südreich, Herrscher im neuen Jerusalem, Erster einer ewigen Dynastie. „Großer Gott, wir loben dich.“ Nackt hast du vor den Leuten getanzt, als die Lade in Jerusalem einzog. Du brauchtest keine Kleider. Und doch waren sie da: die neuen Kleider, die neue Macht, die neuen Frauen.

Verführerisch war dein Gesang für die Frau des anderen – deren Mann Uria wegen dir dran glauben musste. Verzweifelt, als du die Wahrheit über dich erfahren hast und euer Kind kurz danach starb. Klagend, lobend, zweifelnd bei dem, was alles noch folgen sollte. Die Tiefe deiner Musik hatte ihren Preis. Doch was wären wir ohne sie? „Le David.“ So steht es auf Hebräisch fast über der Hälfte aller Psalmen: „von dir“, „für dich“, „über dich“ geschrieben. Was wären wir ohne deine Lieder?

2. Ein kleiner kirchenmusikalischer Wunschzettel – für die Zeit „danach“

Ich wünsche mir eine Musik wie Davids Harfenspiel: herrlich – klagend / brüchig – strahlend / leidend – prahlend. Ein Musikspiel, das therapeutisch ist für Mächtige, tröstend für Verzweifelte, verführerisch für Verliebte. Lieder, die von Menschen wieder in den Kirchenhäusern gemeinsam gesungen werden können und die sie auch dann noch weitersummen, wenn sie die Mauern der Kirche verlassen haben.

Ich wünsche mir Lieder, in denen es geistlich wirklich um etwas geht. Mit wüstengeborenen Texten, die etwas zu sagen haben: von der wundervollen Schönheit, der tiefen Verletzlichkeit und der Widersprüchlichkeit des Lebens. Von der Ambivalenz der Person, die ich „Ich“ nenne, und von der Abgründigkeit des anderen, den man gemeinhin „Gott“ nennt. Und davon, wie Menschen früher mit solch „ver-rückten“ Seuchenzeiten umgegangen sind.

Ich wünsche mir Melodien, bei denen ich mich vor meinen Kindern und meinen kirchenfremden Nachbarn, wenn sie nach der Corona-Zeit mit in den Gottesdienst kommen, nicht rechtfertigen muss, warum man so etwas macht. Ein hohes Alter ist kein Argument gegen ein Kirchenlied – aber eben auch keins dafür.

Ich wünsche mir kirchenmusikalische Fairness gegenüber Konfirmand/innen. Wenn Sie als Pflichtbesucher/innen zukünftig wieder gefühlt die Hälfte der Gottesdienstbesucher/innen stellen, sollten sie auch den gleichen Anteil der Lieder bestimmen können. Überhaupt hielte ich es in der Kirche allgemein für vorteilhaft, wenn wir die Menschen offen nach ihren Wünschen fragten, und nicht nur die, die ohnehin kommen.

Ich wünsche mir, dass es künftig wieder Zeiten echter, kollektiver Stille im Gottesdienst geben wird. Zeiten, in denen sowohl die Pfarrer als auch die Orgel still sind. Nicht fünf Sekunden, sondern fünf Minuten. Heilsames, gemeinsames Schweigen. Ich glaube, dass Gott es ernst gemeint hat, als er sich im Flüstern eines verwehenden Schweigens offenbarte.

Ich wünsche mir Gottesdienste mit Kirchenmusik und Predigten, die geistlich etwas wagen. Die sich um Gottes und des Menschen willen aus dem Fenster lehnen. Und bei denen ich – fromm gesprochen – etwas „für meine Seele“ mitnehme: um mutig zu leben, getrost zu sterben und trotzig zu kämpfen. Allen biologischen oder politischen Viren zum Trotz.

Ich wünsche mir eine Kirchenmusik, die Menschen zum Singen bringt von dem, woran sie glauben – kontrapunktisch gegen alle apokalyptischen Untergangsszenarien, in einer Gemeinschaft spannungsvoll-wohlklingend-bereichernder Verschiedenheit.

Ich wünsche mir eine Kirchenmusik „Le David“. Eine Musik von Menschen und für Menschen, die wie David glauben, singen, siegen, kämpfen, verlieren, sich verrennen. Die Macht haben und die fliehen müssen. Die mal auf dem Thron sitzen und dann wieder in Höhlen festsitzen. Die sich in die Frau eines anderen verlieben und inbrünstig um das eigene Kind klagen.

Und vielleicht ist das „Le David“ auch ein notwendiger Kontrapunkt zum protestantischen Soli Deo gloria – ein musikalischer Platzhalter dafür, dass sich Gottes Ruhm und Herrlichkeit eben darin ereignet, wenn wir mutig, getrost und trotzig unsere Lebensgeschichten in die Ewigkeit Gottes einbringen.

Und ich freue mich darauf, wenn wir es irgendwann einmal, wenn wirklich alles überstanden ist, einfach wieder gemeinsam tun können: Singen. Aus voller Kehle. Ohne Mundschutz und Abstandsregeln. Für Gott, für die Welt und füreinander.

 

Queres aus der Quarantäne 11, von Dr. Thorsten Latzel

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