Vielleicht. Über Zweifel, Freiheit und Möglichkeit

30.8.2019

Thorsten Latzel

Der iranisch-amerikanische Psychologe Albert Mehrabian machte 1967 Studien zu nonverbaler Kommunikation und untersuchte dabei die Bedeutung von Inhalt, Stimme und Körpersprache für das Verständnis bestimmter ...

Der iranisch-amerikanische Psychologe Albert Mehrabian machte 1967 Studien zu nonverbaler Kommunikation und untersuchte dabei die Bedeutung von Inhalt, Stimme und Körpersprache für das Verständnis bestimmter Wörter. Als sogenannte „Kommunikationspyramide“ haben seine Ergebnisse – oft grob vereinfacht – Eingang in die Präsentationen von Beratern gefunden: „7 % Inhalt, 38 % Stimme, 55 % Körpersprache.“ Bezieht man diese Zahlenwerte auf jede Form von Kommunikation, ist das natürlich Nonsens. Man denke etwa an die Antwort auf die Aufgabe „Wie viel ist 17 + 9?“ im Mathematik-Unterricht. Aufschlussreich sind die Ergebnisse dagegen bei einem der von Mehrabian untersuchten Schlüsselwörter: „maybe“. Erhält man auf die obligatorische Frage nach dem ersten Date – „Sehen wir uns nächste Woche?“ – die Antwort „Vielleicht“, hängt wirklich viel – wenn nicht alles – von Stimme, Mimik, Haltung des Gegenübers ab.

„Vielleicht.“ Ein changierendes, kleines Wörtlein von herrlicher wie schrecklicher Unbestimmtheit. „Viel“ und „leicht“ – ein spannungsvoller Gegensatz in sich. Bei Befragungen mit verbalen Skalen rangiert sein Wahrscheinlichkeitswert irgendwo zwischen 40 und 60 %. In der Nähe von „eventuell“, „möglicherweise“, „unter Umständen“, „gegebenenfalls“. Es steht, je nachdem, für Zweifel – Unsicherheit – Möglichkeit – Freiheit.

Im November 2014 lief der letzte Tatort mit dem Berliner Kommissar Felix Stark (ja, der Kleine mit der großen Nase) mit dem Titel „Vielleicht“. In ihm sieht die norwegische Psychologie-Studentin Trude immer wieder Morde voraus, die dann tatsächlich geschehen. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Eine der Polizistinnen ist kurz davor, den Dienst zu quittieren: „Mir ist das Ganze hier zu spooky.“ Es geht in dem Krimi um philosophische Fragen: ob das Schicksal vorherbestimmt ist oder sich etwas daran ändern lässt; welche Einflussmöglichkeit und Verantwortung diejenige hat, die das Schicksal vorhersieht; und ob es Platz für ein „vielleicht“ gibt. Am Ende, als der Kommissar selbst, wie vorhergesagt, schwer verletzt im Krankenhaus liegt, antwortet der Arzt auf die Frage, ob er es denn schafft, mit „vielleicht“. Dann ist Schluss.

„Vielleicht“. Ein kleines Wort von großer Unbestimmtheit. Das hebräische Wort dafür heißt „Ulai“ und meint von seinen Wortelementen her eigentlich so etwas wie „oder nicht“ oder „wenn wenn“. Das gedoppelte „wenn wenn“ taucht im Alten Testament auf als Ausdruck der Hoffnung und der demütigen Bitte einerseits wie des Zweifels, der Furcht, der Unsicherheit andererseits. Es ist Ausdruck der Offenheit, der Zukunft und der existentiellen Ungewissheit. Und es ist in diesem mehrfachen Sinn von großer theologischer Relevanz.

„Vielleicht“ ist anti-deterministisch. Um die Freiheit des Menschen und seines Willens steht es wissenschaftlich im Augenblick ja nicht besonders gut. Neurowissenschaften, Genetik und Big Data weisen auf die Vorherbestimmtheit und Vorhersehbarkeit des Menschen hin. Die Vorhersehung (lat. providentia) ist gleichsam von Gott zu Google, Genetik und Gehirnforschung gewandert. Das Wort „vielleicht“ steht dem entgegen. Es steht für eine Sichtweise, in der das Schicksal nicht einfach festgelegt ist; in der Freiheit nicht als Illusion gilt. „Vielleicht ja doch.“ In dem kleinen Wort schlummert ein unbestimmter Raum für uns Menschen als einem „Wesen mit Möglichkeit“.

„Vielleicht“ ist skeptisch. Es verträgt sich schlecht mit einem Denken in festen, starren Dogmen. Aufschlussreich ist hier ein Gedanke des Theologen Paul Tillich (der von 1929 bis 1933 in Frankfurt lehrte). Er wandte das reformatorische Verständnis von der „Rechtfertigung des Sünders“ auch auf den Bereich der Erkenntnis an. Und sprach von der „Rechtfertigung des Zweiflers“. Auf der Suche nach der unbedingten Wahrheit sind alle vorläufigen Wahrheitsverständnisse immer wieder infrage zu stellen. Der Zweifel wird so verstanden nicht zum Ausdruck eines defizitären, sondern des wahren Glaubens. Eben weil durch den Zweifel die vorläufigen Erkenntnisse des Glaubens immer wieder neu von Gott als der Wahrheit selbst durchbrochen werden. „Vielleicht“ steht so jeder Form eines religiösen Fundamentalismus entgegen, der – übergriffig wie alle Fundamentalismen – Gott besser zu kennen meint, als er sich selbst. „Ich werde sein, der ich sein werde.“ (2. Mose 3,14) „Vielleicht“ wird so zum Bekenntniswort eines wahrhaft zweifelnden Glaubens an den unverfügbaren, freien Gott der Liebe.

„Vielleicht“ ist libertär. Ein Platzhalter für die „Freiheit“ in der Beziehung von Gott und Mensch. Die Freiheit ist elementar für den Glauben, wenn er recht verstanden wird – die Freiheit Gottes ebenso wie die Freiheit des Menschen. Die Freiheit Gottes als das „große Vielleicht“ (François Rabelais), an den wir glauben, auf den wir hoffen, dessen wir gewiss sein dürfen, den wir aber eben niemals besitzen, sicher haben oder verfügbar machen können. Und die Freiheit des Menschen als eines offenen Wesens, der eben nie ganz bestimmt werden kann, immer auch ein anderer ist, in dem immer auch ein verborgenes „Vielleicht“ schlummert – weil er selbst in dieser unbedingten Freiheit Gottes gründet. Oder in Anlehnung an Mehrabian gesprochen: Auch im Glauben kommt es eben nicht nur auf den Inhalt, sondern wesentlich auch auf Stimme, Mimik und Gestik an, in denen sich einem die Freiheit des „Vielleicht“ wahrhaft erschließt – auf die non-verbale Kommunikation Gottes.

Rainer Maria Rilke hat diesen Moment der Hoffnung, der Befreiung, der Möglichkeit eindrucksvoll in seinem Gedicht „Vielleicht …“ beschrieben. Den Spalt des „Vielleichts“, der sich im Fels des eigenen Zweifelns und Nicht-Glauben-Könnens auftun kann.

Vielleicht …

Vielleicht, dass ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, dass ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe,
und alle Nähe wurde Stein.

Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe,
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist du es aber:
mach dich schwer,
brich ein:
dass deine ganze Hand an mir geschehe
und ich an dir mit meinem ganzen Schrein.

(Rainer Maria Rilke)

Das „Vielleicht des Glaubens“. Das meint etwas anderes als die entscheidungsschwache Unentschiedenheit einer sogenannten „Generation maybe“, die bleibend im Möglichen schwebt, sich selbst als Lebenskünstler geriert und im Nest der Eltern von der Sicherheit einer Beamten-Existenz träumt. Es meint vielmehr das Aushalten tiefer existenzieller Freiheit, die einen vor Entscheidungen stellt. Den Mut zum Zweifeln – im Vertrauen darauf, dass Gott als die Wahrheit einmal offenbar werden wird. Und die Hoffnung auf eine andere, gerechte Welt wider allen Augenschein. „Vielleicht.“

Vielleicht

Vielleicht
bin ich einmal ein ganz anderer
dereinst und scherbenhaft
schon jetzt.

Vielleicht
bin ich einmal frei, einfach nur zu lieben
die Welt, die anderen
und mich.

Vielleicht
bin ich einmal zu Hause, geborgen
mit meinen Zweifeln und Fragen
in dir. (TL)

Theologische Impulse 34, von Dr. Thorsten Latzel