Viren, Leid und das „Böse“. Wieso es wichtig ist, wie wir über die Pandemie reden

4.4.2020

Thorsten Latzel

Wir können sie nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder spüren. Sie bringen Krankheit, Leiden und Tod. Und sie vermehren sich rasant – ohne eigenständig zu ...

Wir können sie nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder spüren. Sie bringen Krankheit, Leiden und Tod. Und sie vermehren sich rasant – ohne eigenständig zu leben – parasitär auf Kosten anderer. Diese kurze Charakterisierung ordnet Viren, aktuell speziell das SARS-CoV-2-Virus, den Phänomenen zu, die wir gemeinhin als „böse“ bezeichnen. Gerade im Blick auf ihr parasitäres, nicht selbständiges Wesen können „Viren“ sogar zu einer Metapher für das „Böse“ auch in anderen Lebensfeldern werden: eine Wirklichkeit, die nicht selber existiert, sondern sich nur abhängig von anderen, oft menschlichen Wirten vermehren und realisieren kann. Von Computer-Viren über die virale Wirkung rassistischer oder antisemitischer Gedanken bis hin zum „Bösen an sich“ – das nicht „nicht ist“, aber eben auch „nicht etwas ist“, sondern dessen Wesen paradox formuliert gerade in seiner Nichtigkeit besteht (Karl Barth).

Doch so verführerisch naheliegend die Bewertung von Viren als „böse“ ist, so problematisch ist sie zugleich. Zum ersten, weil die Sichtweise sehr anthropozentrisch ist. In ähnlicher Weise ließe sich etwa auch vieles andere als „böse“, weil menschenfeindlich einordnen: etwa Bakterien, Mücken, Zecken, Läuse, Wanzen, giftige Pilze, Spinnen, Schlangen oder Raubtiere. Entsprechend wären Menschen als „böse“, weil lebensfeindlich für fast alle Tier- und Pflanzenarten zu werten. Zum zweiten spielen Viren durch ihren Gen-Transfer nicht nur in der Evolution eine wichtige Rolle. Sie können auch (im engeren menschlichen Interesse) gezielt zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden z.B. bei Tumoren, antibiotika-resistenten Bakterien oder Gendefekten. Zum dritten schließlich bleibt unklar, was eigentlich genau damit gemeint ist, wenn wir sagen, Viren seien „böse“. Wie wichtig sprachliche Klarheit an dieser Stelle ist, zeigen drei Beispiele aus der aktuellen Diskussion der Corona-Pandemie.

1. „Wir sind im Krieg.“ (Trump, Macron) Das Anliegen dieser martialischen Rhetorik ist leicht erkennbar: Die Bevölkerung soll zu außerordentlichen Anstrengungen in einer Ausnahmesituation bewegt und die Einschränkung demokratischer Freiheitsrechte legitimiert werden. Ebenso erkennbar ist diese Redeweise aber auch ein deutlicher Indikator von Populismus: Es geht um den Dualismus von „Wir gegen das Böse“ oder konkreter „Wir vs. Virus“. Im Blick auf eine Pandemie ist die Kriegs-Metaphorik aber nicht nur schief, sondern sogar gefährlich: Sie ist schief, weil „Kriege“ eine Wirklichkeit von Leid beschreiben, die von Menschen gemacht ist, die vermeidbar ist, in der Menschen, Bevölkerungsgruppen, Länder gewaltsam gegeneinander kämpfen. All dies trifft auf eine Pandemie nicht zu. Und im Blick auf den letzten Punkt ist die Analogie sogar explizit gefährlich. Denn in einer Pandemie geht es gerade darum, nicht gegeneinander zu kämpfen. Gefragt ist vielmehr Solidarität – individuell, gesellschaftlich, international. Wie problematisch hier Kampf-Logiken sind, zeigt der Umgang mit knappen Ressourcen (etwa Masken, Beatmungsgeräten oder absurderweise Klopapier). Den Viren ist unser Krieg, bildlich gesprochen, nicht nur „herzlich egal“. Die große Gefahr ist, dass der Krieg sich von den Viren auf die Wirte überträgt: die Infizierten, die Fremden, die Konkurrenten.

2. „Irgendjemand muss schuld sein.“ Wenn von „Bösem“ gesprochen wird, wird oft in Täter-Opfer-Kategorien gedacht. Auch in der aktuellen Pandemie äußert sich das tiefsitzende Bedürfnis, irgendwie irgendjemanden dafür zur Verantwortung zu ziehen: die Tier-Verkäufer auf dem Markt von Wuhan, die vertuschenden chinesischen Behörden, die heimischen Politiker oder sich selbst als Träger der kollektiven Ignoranz, uns könne dies nicht betreffen, die Verantwortlichen in Ischgl, Verzögerer wie Thomas Bach oder Leugner wie Bolzonaro, Propagandisten einer neoliberalen Verknappung des Gesundheitswesens, Krisen-Spekulanten von medizinischen Gütern u.a. So richtig es ist, Verantwortlichkeiten im Umgang mit der Pandemie zu klären – ethisch, politisch, juristisch, so wenig lässt sich das durch die Pandemie verursachte Leid einfach im Modell eines Täter-Opfer-Denkens fassen. Es gibt Erfahrungen von Leid, die sich dieser Vorstellung entziehen. Darauf hat bereits Leibniz in seinem Essai de Théodicée (1710) verwiesen, indem er physisches Übel von moralischem und metaphysischem Bösen unterschied. Auch wenn die Wechselwirkungen fließender sind und die Phänomene von Leid und Bösem vielfältiger, als es diese idealtypisch-harmonische Differenzierung nahelegt, zeigt sie zurecht die Grenzen des Täter-Opfer-Denkens.

3. „Die sollen dafür sorgen, dass das aufhört.“ Komplementär zur Schuld-Frage gibt es in der Pandemie eine Erwartungshaltung an Entscheidungsträgerinnen und Experten, die mitunter geradezu messianischen Charakter annimmt. Der Wunsch nach einem „weißen Ritter“ gegen das Böse. Die Virolog/innen sollen exakt wissen, was da genau geschieht, und umgehend ein Heilmittel finden. Die Politiker/innen sollen weit vorausschauend Lösungsstrategien und fertige Master-Pläne haben. Und oft werden die Kompetenz-Erwartungen dabei munter vermengt. So verständlich diese Wünsche sein mögen, so belastend und erdrückend können sie für Verantwortungsträger sein, wie sich aktuell zeigt. Es gehört zur sinnwidrigen Wirklichkeit des Leidens, gerade wenn es pandemische Ausmaße hat, dass es unser Verstehen und Beherrschen an Grenzen führt. Wir sind in einem offenen, gemeinsamen Leidens- und Lernprozess, den niemand bisher so kennt noch einfach beenden kann. Es gibt in dieser weltweiten Krise keinen „weißen Ritter“, sowenig wie eine „Armee“ böser Viren. Was es vielmehr gibt und auch braucht, sind Menschen in vielen Ländern, die je an ihrem Ort solidarisch, rational und engagiert forschen, entscheiden, handeln.

Für das Verstehen und den Umgang mit der aktuellen Pandemie ist dabei eine klare Differenzierung von „Leiden und Böse(m)“ wichtig, wie sie etwa von dem Theologen Ingolf U. Dalferth in seinem gleichnamigen Buch eingehend entfaltet wird. Leiden, so Dalferth im Anschluss an Levinas, ist an sich sinnlos und widersinnig. Es gründet in der Widerfahrnis von etwas, das Leben zerstört, verletzt, mindert, belastet. Und es ist Unsinn, wenn versucht wird, dem Leiden an sich einen innewohnenden, höheren, gar religiösen Sinn verleihen zu wollen. Dies gilt es gegen religiöse „Leid-Verklärungen“ gleich welcher Provenienz zu betonen. Etwas Anderes ist die Frage, wie der Mensch seinerseits mit der reflektierten und gedeuteten Erfahrung von Leid umgeht, wie er das an sich Sinnlose und Sinnwidrige im Sinnhorizont seines Lebens versteht, verarbeitet, mit ihm umgeht. Und dabei die Freiheit gewinnt, sich nicht selbst passiv von dem Leiden bestimmen zu lassen. Und erst hier kommt das „Böse“ im religiösen Sinn als ein Orientierungs- und Beziehungsbegriff ins Spiel. Leiden ist demzufolge nicht an sich „böse“, sondern ich erfahre in und am eigenen oder fremden Leiden eine Lebens- und Sinnwidrigkeit, die es für mich zu etwas „Bösem“ macht. Das Virus ist nicht an sich „böse“, sondern die durch das Virus verursachte Pandemie ist für uns „böse“, weil Menschen durch sie massive Leiden gesundheitlicher, seelischer, ökonomischer Art erfahren. Aufgabe von Theologie ist es, Orientierung im Umgang mit der Sinnlosigkeit des Leiden zu vermitteln und so der erfahrenen Wirklichkeit von „Bösem“ entgegen zu glauben, zu hoffen, zu lieben. Etwa, indem sie dazu beiträgt, dass die Pandemie uns eben nicht passiv oder ängstlich selbstfixiert macht. Sondern dass wir ein neues solidarisches „Für-Einander-Dasein“ mit Menschen vor Ort wie weltweit praktizieren – aller Sinnwidrigkeit zum Trotz.

Darum geht es in christlicher Perspektive im Blick auf das anstehende Fest von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi:

– Der Sinnwidrigkeit von Leid, Tod und dem durch sie erfahrenen „Bösen“ entgegen zu leben.
– Mit Christus Gott bis zuletzt nicht aus der Verantwortung zu lassen, gleichsam mit Gott um Gott zu ringen.
– Bis Gott selbst am Ende das Kreuz zum Zeichen einer neuen Hoffnung macht.

Genau dies ist die verwegene Zuversicht des Osterglaubens: dass das „Böse“ ein für alle Mal besiegt, gebrochen, entmachtet ist, aller bleibenden Erfahrung von sinnlosem Leiden zum Trotz.

Queres aus der Quarantäne 7, von Dr. Thorsten Latzel

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