Vom Verblassen des Himmels und dem Blau der Liebe

15.3.2019

Thorsten Latzel

Ein Problem der Gegenwart ist, dass uns irgendwie der Himmel abhandengekommen ist. Das ist ein echtes Problem. Geht es doch um die Frage, auf was ...

Ein Problem der Gegenwart ist, dass uns irgendwie der Himmel abhandengekommen ist. Das ist ein echtes Problem. Geht es doch um die Frage, auf was hin wir leben, lieben, glauben, hoffen. Hier und jetzt und über den Tod hinaus. Bis in alle Ewigkeit. Wie es einmal sein wird: mit uns selbst, mit unseren Lieben und unseren Feinden, mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, die einmal gelebt haben, mit der gesamten Schöpfung.

Einfach war es mit dem Himmel ja nie. Angesichts der unmittelbaren Erfahrung menschlichen Leidens und von Menschen gewirkter Grausamkeiten ist es schon immer einfacher gewesen, sich die Hölle vorzustellen. Und sie ist zugleich auch wesentlich interessanter. Das zeigt sich exemplarisch in modernen Filmen ebenso wie in klassischer Kunst, etwa in den Werken von Hieronymus Bosch: Teufel und Dämonen, Folter und Fegefeuer, ewige Spiegelstrafen für irdische Sünden – daraus lässt sich etwas machen. Die Hölle, so die Vorstellung, ist das radikalisierte und auf Dauer gestellte Leid der Gegenwart – nur mit umgekehrten Vorzeichen: Täter werden Opfer. Der Himmel bleibt dagegen unvorstellbar, verschwommen, das irgendwie erhoffte Andere. Filmisch bzw. künstlerisch schnell vom Licht überblendet, um nicht zu kitschig zu werden.

Sodann gibt es da das Problem, dass niemand „zurückgekommen“ ist und verlässlich befragbar wäre. Im Neuen Testament wird diese unbedingte Grenze sehr eindrücklich beschrieben im Gleichnis „Vom reichen Mann und armen Lazarus“ (Lukas 16,19-31). Der namenlose Reiche scheitert darin kläglich bei seinem Versuch, aus dem Hades heraus noch ein letztes Mal seine guten Beziehungen spielen zu lassen, diesmal zu Vater Abraham höchstpersönlich. Weder schafft er es, etwas von den irdischen Herrschaftsverhältnissen über den Tod hinaus zu retten („sende Lazarus, damit er … mir die Zunge kühle“). Noch gelingt es ihm, seine eigenen negativen Erfahrungen als religiöses Herrschaftswissen zu vermitteln, um wenigstens für die Seinen etwas herauszuschlagen („sende ihn in meines Vaters Haus“). Nein, Lazarus, der unbeachtete Bettler mit den Geschwüren unterm Tisch bei den Hunden, der jetzt einen Namen trägt, bleibt in Abrahams Schoß. Und wir bleiben wie die zahlreichen Brüder des Reichen in der Unsicherheit, ob es denn wahr ist mit dem Leben nach dem Tod und wie es dort aussieht. Der Tod bleibt erkenntnistheoretisch eine harte Grenze und der Himmel außerhalb des Bereichs empirisch verifizierten Verfügungswissens. Auch in dieser Geschichte erscheint der Himmel nur metaphorisch verschwommen („von den Engeln getragen in Abrahams Schoß“) gegenüber den sehr anschaulich geschilderten Zuständen in der Hölle.

Endlich lauert dort, wo es doch einmal konkreter wird, nicht nur die Gefahr des religiösen Kitsches. Der Himmel diente vor allem allzu oft zur billigen Jenseitsvertröstung. Religiöse Blüten an den Ketten der Unterdrückten (Marx). Eine Projektionsfläche frommer Wünsche für „Kinder und Bettler, hoffnungsvolle Toren“ (Goethe). Nach dem Tal voll „Jammer, Trübsal und Elend“ hier, dort der Gipfel himmlischer „Wonne, Sonne, Seligkeit“. So fremd und abgeschmackt wie die Worte wirkt dann vielfach auch die Vorstellung des Jenseits selbst. Der Himmel ist verblasst. Nur in romantischen Reservaten fristet er noch eine klägliche Rest-Existenz: der „siebte Himmel“ als homöopathisch verdünnte Potenz. Blumen-wolkige Bilderwelten von Hochzeitsgeschäften und Floristen am Valentinstag. Brav und bieder bis zur Blödigkeit.

So schwierig es auch immer mit dem Himmel war, sein Verlust ist ein echtes Problem. Uns ist eine positive Gegenwelt verloren gegangen, eine unbedingte, aktivierende Hoffnung gegen Leiden, Krieg, Krankheit, Armut und Tod in diesem Leben. Eine Perspektive, die den Blick in die Ewigkeit weitet – über den Tellerrand des eigenen kleinen Lebens hinaus. Ein Ort ausgleichender Gerechtigkeit, damit Gewalt, Unrecht und Unterdrückung am Ende nicht siegen werden. Bei allen Schwierigkeiten war diese Perspektive früheren Zeiten klarer gewesen: Einmal wird es anders werden. Dann wird der Tod nicht das letzte Wort haben. Und auch nicht das Böse in dieser Welt.

Mit dem Verblassen des Himmels hat sich zugleich unser Lebensgefühl im Hier und Jetzt verändert. Das Leben ist zur „letzten Gelegenheit“ geworden (Marianne Gronemeyer), der Urlaub zum Paradiesersatz. Es gilt intensiv zu erleben, glücklich zu sein, nichts zu verpassen – und dies den anderen zu posten. „Denn morgen sind wir tot“ (1. Kor 15,32; Jes 22,13). Das Leben als Anhäufung möglichst vieler himmlischer Glücksmomente, die am Ende doch alle vergehen.

Als Kirche, als Glaubende stehen wir vor der Aufgabe, neu vom Himmel zu sprechen: in neuen Bildern, in anderer Sprache, in ungewohnten Farben, Formen, Gerüchen. Weil wir nicht schweigen dürfen von der Hoffnung, die in uns ist. Wir müssen neu vom Himmel sprechen, um wach zu werden. „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht“ (Günter Eich). Um dem verzweifelten Stress des Glücklich-Werden-Müssens etwas entgegenzusetzen. Um den flüchtigen Moment als einen Augenblick im Licht der Ewigkeit Gottes wahrzunehmen, in der alles Leiden und alle Liebe, die wir einander tun, erinnert sind. Um Hass, Unrecht und Gleichgültigkeit ins Wort zu fallen.

Im Judentum sind „die Himmel“ (ha schamajim) oft ein Synonym für Gott. Von beiden lässt sich m.E. am angemessensten in einer Sprache der Liebe reden. Ich glaube daher, dass wir lernen müssen, neu vom „Blau der Liebe“ zu sprechen.

Vom Blau der Liebe

Die Farbe der Liebe ist nicht rot.
Sie ist blau, himmels-blau.
Gott wusste, was er tat, als er den Himmel färbte.
Blau, weil sie auch das Leiden,
die Kälte, den Schmerz mit umgreift.
Blau, weil sie Ewigkeit atmet,
sich das Meer in ihr spiegelt,
die blauen Blume aus ihr erwächst.
Blau, weil sich einem diese Liebe, der Himmel, Gott
oft in blauen Stunden erschließt. (TL)

Der Liebe, dem Himmel und Gott wird man wohl in poetischer Sprache am ehesten gerecht. In einer Sprache, die etwas wagt. Die den Sprechenden mit einbezieht. Und die immer zugleich um die Begrenztheit, Gebrochenheit, Uneigentlichkeit der eigenen Sprachversuche weiß. Das ist es, was mich zunehmend mehr an kirchlicher und theologischer Rede stört. Wenn wir in der Kirche eine Sprache sprechen, der die poetische Kraft verlorengegangen ist. Eine Sprache, die von Wundern, Himmel, Auferstehung, letztlich von Gott oft nichts Berührendes mehr zu sagen hat. Eine Sprache, die nicht um der Liebe willen Kopf und Kragen riskiert. Sondern die sich ans eigene Beffchen klammert und allzu oft die immer gleichen Bilder und Begriffe wiederkäut. Religiöse Rede ist riskant oder sie ist nicht religiös. Sonst ist sie bloß ein Reden über Religion. Für den Gang auf die Kanzel braucht es daher eine geistliche Gefahrenzulage. Den theologischen Risikofaktor finde ich ein wichtiges Qualitätskriterium für eine gelungene Predigt. Weil wir vom Himmel eben nur reden können, wenn wir uns – um Gottes und des Menschen willen – weit aus dem Kirchenfenster lehnen.

Von Schleiermacher stammt dazu die kluge Unterscheidung von heterodox und häretisch. Häretisch, also „anderes“ lehrend und theologisch problematisch, wäre es, etwas zu verkündigen, was dem christlichen Glauben widerspricht. Als Christen glauben wir etwa nicht an ein Rad der Wiedergeburten, ein ewiges Nichts oder eine Erlösung von dieser Welt. Heterodox, also „anders“ lehrend und theologisch notwendig, dagegen ist es, für den Glauben an die Einmaligkeit des Lebens, die Auferstehung und die Hoffnung für die ganze Schöpfung immer wieder neue, angemessene und berührende Sprache zu finden. Wenn wir heute ganz rechtgläubig, orthodox einfach das gleiche sagen wie frühere Zeiten, sagen wir eben nicht mehr das Gleiche.

Im Rahmen einer der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD hat eine der Befragten die Hoffnung auf die Auferstehung und den Himmel einmal, wie ich finde, sehr treffend so ausgedrückt: „Wir werden uns alle noch wundern.“ In diesem Satz, so die Frau, stecke für sie alles drin. Zum einen wird es ganz anders sein, als wir es uns denken: Wir werden uns wundern. Zum anderen werden wir aber da sein, um uns überhaupt wundern zu können. Und zum dritten wird es wunderbar sein.

Eines der berührendsten Gedichte im Blick auf Himmel, Auferstehung, ewiges Leben ist für mich das Gedicht „Ein Leben nach dem Tod“ von Marie-Luise Kaschnitz. Es ist getragen von ihrer starken persönlichen Gewissheit im Blick auf die Auferstehung und zugleich von der Schwierigkeit, davon etwas Genaueres sagen zu können.

„Glauben Sie fragte man mich
An ein Leben nach dem Tode
Und ich antwortete: ja
Aber dann wusste ich
Keine Antwort zu geben
Wie das aussehen sollte
Wie ich selber
Aussehen sollte
Dort“

Die Dichterin schreddert im weiteren Gang dann kurzerhand die überlieferte Bildwelt der kirchlichen Lehrtradition: mit ihrer himmlischen Verlängerung der irdischen Herrschaftsverhältnisse und mit dem klaren Schwarz-Weiß-Denken von Verfluchten und Heiligen. An ihre Stelle setzt sie eine zärtlich tastende Liebessprache. Ein leichtes theologisches Tänzeln. Nur Satzfragmente, Wortfetzen, abgebrochene Zeilen. Zerbrechlich gewoben wie der seidene Faden eines Spinnennetzes. Keine fertige Lehre. Aber etwas, was sie umhüllt wie ein Kleid. Ein Gewand aus Liebesworten.

„Ich wusste nur eines
Keine Hierarchie
Von Heiligen auf goldenen Stühlen
Sitzend
Kein Niedersturz
Verdammter Seelen
Nur

Nur Liebe frei gewordene
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend

Kein Schutzmantel starr aus Gold
Mit Edelsteinen besetzt
Ein spinnwebenleichtes Gewand
Ein Hauch
Mir um die Schultern
Liebkosung schöne Bewegung
Wie einst von tyrrhenischen Wellen …
Wortfetzen
Komm du komm“

Es sind die fremden tyrrhenischen Wellen, die den Rhythmus des weiteren Gedichts tragen. Eine wogende Bewegung aus Berührungen und Worten, Schlafen und Wachen, gemeinsamer Lektüre. Das Meer als Symbol von Ewigkeit und sanft wiegender Geborgenheit. Tod, Schmerz und Tränen werden wie der Schlaf zum Durchgang: von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Ewigkeit. Vom „schlief“ über das „wache auf“ bis zum „immer so fort“. Die radikale Begrenzung alles Sagbaren auf Liebe und Freiheit. Ausgedrückt durch das doppelte „nur“, Spiegel des reformatorischen „allein“. Und die ganze Auferstehungshoffnung konzentriert in dem kleinen Schlüsselwort „wieder“.

„Schmerzweb mit Tränen besetzt
Berg- und Talfahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner

So lagen wir lasest du vor
Schlief ich ein
Wachte auf
Schlief ein

Wache auf
Deine Stimme empfängt mich
Entlässt mich und immer
So fort“

Die eigentliche Pointe liegt am Ende in der poetischen Umwertung der anfänglichen Unbestimmtheit. Dass wir nicht wissen, wie der Himmel genau aussieht, ist weder ein Mangel an Klarheit. Noch ist es ein Zeichen von Ungewissheit. Vielmehr drückt sich darin eine Erwartungsoffenheit aus, die Liebe freien Raum lässt. Nur wer das Blau des Himmels offenlässt, wird die Liebkosung der tyrrhenischen Wellen spüren.

„Mehr also, fragen die Frager
Erwarten Sie nicht nach dem Tode?
Und ich antwortete
Weniger nicht.“

Theologische Impulse 10, von Dr. Thorsten Latzel