Von der geistlichen Kunst des Radfahrens

12.7.2019

Thorsten Latzel

Fahrrad Ich weiß nicht, ob Sie auch zu jenen ca. 60 Millionen Einwohnern von Deutschland gehören, die in diesem Jahr Fahrrad gefahren sind. Ob Sie nun ...

Ich weiß nicht, ob Sie auch zu jenen ca. 60 Millionen Einwohnern von Deutschland gehören, die in diesem Jahr Fahrrad gefahren sind. Ob Sie nun alltäglich – mit der klassischen Klammer ums Hosenbein – zum Bäcker, Kindergarten oder zur Arbeit fahren. Ob Sie am Wochenende langsam die Flussauen entlang radeln und sich an Gottes schöner Schöpfung freuen – „Schau an ein Pfauenauge! Wie nett, wie nett.“ Oder ob Sie auf dem Rennrad (mit oder ohne E-Antrieb) im Taunus, Vogelsberg oder Odenwald eine Bergwertung absolvieren: Fahrradfahren hat eine ganz eigene Faszination. Fahrradfahren ist immer mehr als bloße Fortbewegung von A nach B. Fahrradfahren ist ein Stück Lebenskunst. Es gehört mit Laufen und Schwimmen, Lesen und Schreiben zu den grundlegenden kulturellen Techniken, die ein Mensch in der neuzeitlichen Zivilisation erlernt.

Vielleicht erinnern Sie Sich noch daran, wie Sie es selber als Kind gelernt haben oder wie Sie es als Eltern oder Großeltern Ihren Kindern oder Enkeln beigebracht haben. Ich zumindest kann mich noch gut an den erhebenden Moment vor rund 40 Jahren erinnern, als ich zum ersten Mal ganz alleine und ohne Stützräder gefahren bin. Ein Gefühl von Leichtigkeit, Stolz, Freiheit, Glück stellte sich damals bei mir ein. Ich spürte irgendwie in mir die kindliche Gewissheit: „Wenn du sogar das schon kannst, dann wirst du den Rest im Leben auch noch schaffen.“

Später bekam ich dann von meinen Großeltern mein erstes eigenes Fahrrad geschenkt. Ein neues Herren-Rad – schließlich war ich ja ein Junge – 26 Zoll, grasgrün, von Goericke. Ich war stolz wie Oskar. Von nun an stand mir die Welt offen. Wenn man mich damals im Rausch der rollenden Räder gefragt hätte, ob ich lieber fliegen oder Fahrrad fahren wollte, meine Antwort wäre klar gewesen. Nun, meine anfängliche Euphorie und kindlichen Allmachtsphantasien legten sich mit den Jahren dann etwas. Auch mit meinem grünen Goericke war die Welt doch nicht so leicht zu erobern, wie ich es zunächst dachte. Die Faszination des Fahrradfahrens aber blieb. Im Fahrradfahren spiegelt sich für mich viel von dem wider, worum es im Leben geht.

Fahrradfahren als ein Stück Lebenskunst – und als ein Bild für den christlichen Glauben.

Da ist zunächst die Sache mit dem Gleichgewicht. Das Seltsame am Fahrradfahren wie am Leben ist, dass wir nur deshalb unser Gleichgewicht halten können, weil wir ständig Schlangenlinien fahren. Erst durch die Schlenker nach links und rechts entstehen die Fliehkräfte, die das Rad aufrecht halten. Würde man den Lenker völlig grade halten, würde das Rad ganz schnell umfallen. Das Geheimnis des Fahrradfahrens liegt darin, aufzuhören, geradeaus fahren zu wollen, die Fahrschlenker als notwendig anzunehmen und aus ihnen die Kraft für die Fahrt zu gewinnen.

Da ist dann weiterhin die Schwierigkeit des runden Tritts. Obwohl die meisten Menschen in unserem Land Fahrrad fahren können, beherrschen nur wenige – ich selbst übrigens auch nicht – die saubere Technik des runden Tritts. Die Kurbel ist dabei so zu bewegen, dass sie ganz rund und gleichmäßig und glatt und in einem durch läuft und nicht im ständigen Trittwechsel von Links – Rechts, Links – Rechts. Die Schwierigkeit des runden Tritts liegt darin, Kraft geben und Kraft nehmen, Drücken und Loslassen in Einklang zu bringen.

Da ist schließlich der Gegenwind – der unsichtbare Feind des Radfahrers. Der Wind kommt in der Regel immer aus der falschen Richtung. Fahrradfahren hat so bei aller spielerischen Leichtigkeit auch stets etwas von einem Kampf. Und je schneller man fährt, desto heftiger wird es. Das einzige, was gegen den Wind hilft, ist, gemeinsam zu fahren, sich im Windschatten abzuwechseln. Bei der Tour de France kann man das jedes Jahr wieder schön sehen. Wenn eine Gruppe von Ausreißern sich vom Hauptfeld absetzen will, müssen die Fahrer gut zusammenarbeiten, sich in der harten Arbeit vorne im Wind abwechseln und im sogenannten „belgischen Kreisel“ fahren. Nur als Team haben sie eine Chance im Kampf gegen den Wind.

Fahrradfahren als ein Stück Lebenskunst, als ein Bild für den christlichen Glauben.
– Die Schlenker im eigenen Leben annehmen und aus ihnen die Kraft für die Fahrt gewinnen,
– Kraft geben und nehmen, Drücken und Loslassen in Einklang bringen,
– im Team gemeinsam den Kampf gegen den Wind aufnehmen.
Darum geht es beim Fahrradfahren wie im Leben und Glauben.

Zum Schluss ein Text zum Thema Radfahren aus der Bibel.

In der Zeit der Bibel kannte man zwar noch keine Fahrräder. Aber die Menschen kannten auch damals schon die Lebens- und Glaubenserfahrungen, die wir heute beim Fahrradfahren machen.

Daher hier ein Abschnitt aus dem Buch Prediger in einer etwas freien Übersetzung:

Alles hat seine Zeit

Alles hat seine Zeit, und jede Tour unter dem Himmel hat ihre Stunde:
Fahrradfahren hat seine Zeit, aufhören zu fahren hat seine Zeit;
losfahren hat seine Zeit, ankommen hat seine Zeit;
stürzen hat seine Zeit, wieder aufstehen hat seine Zeit;
Berge rauffahren hat seine Zeit, Berge runterfahren hat seine Zeit;
sich über Siege freuen hat seine Zeit, über Niederlagen klagen hat seine Zeit;
dass Schläuche platzen, hat seine Zeit, Schläuche flicken hat seine Zeit;
in der Gruppe fahren hat seine Zeit, alleine fahren hat seine Zeit;
Tempo machen hat seine Zeit, rollen lassen hat seine Zeit;
Abspringen der Kette hat seine Zeit, Aufziehen der Kette hat seine Zeit;
schwitzen hat seine Zeit, sich ausruhen hat seine Zeit;
bremsen hat seine Zeit, einen Gang hoch schalten hat seine Zeit,
sich über Autofahrer/innen ärgern hat seine Zeit, andere Radler/innen freundlich grüßen hat seine Zeit.
Man mühe sich ab, wie man will, so wird man daran nichts ändern können.
Ich sah die Lebenstouren, die Gott den Menschen gab, dass sie sie mit ihren Rädern abfahren und sich damit plagen.
Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt;
nur dass der Mensch nicht ergründen kann die Lebenstour, die Gott festlegt, weder Anfang noch Ziel.
Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt, als fröhlich sein und es sich und seinen Mitfahrer/innen gut gehen lassen bei seiner Lebenstour.
Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all den Mühen des Radfahrens, das ist eine Gabe Gottes.
So geh hin und iss dein Brot mit Freuden und trink deinen Wein mit gutem Mut.
Lass dein Trikot immer weiß sein und lass deinem Körper die Pflege niemals mangeln.
Genieße deine Lebensfahrt mit dem Mann oder der Frau, die du liebhast. Denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne.

Theologische Impulse 27, von Dr. Thorsten Latzel

Bild: donterase auf pixabay.com

 


Sommertour der Hoffnung

Hoffnung ist nicht nur ein Wort. Deshalb tritt Präses Dr. Thorsten Latzel vom 6. bis 13. Juli 2021 kräftig in die Pedale, radelt von Süd nach Nord, von Saarbrücken nach Wesel durch die Evangelische Kirche im Rheinland und sammelt dabei Hoffnungsgeschichten. „Acht Tage, 40 Gemeinden, eine Botschaft: Wir brechen gemeinsam auf nach Corona“, bringt Präses Thorsten Latzel sein Vorhaben auf einen Satz. Zur Sommertour der Hoffnung