Von Mokassins, Katzenbabys und Geiselnehmern. Gedanken zur Empathie

29.3.2019

Thorsten Latzel

Von Mokassins, Katzenbabys und Geiselnehmern Empathie steht in unserer Gesellschaft derzeit hoch im Kurs. Es gibt kaum einen Lebensbereich, an dem nicht das hohe Lied auf ...
  1. Von Mokassins, Katzenbabys und Geiselnehmern

    Empathie steht in unserer Gesellschaft derzeit hoch im Kurs. Es gibt kaum einen Lebensbereich, an dem nicht das hohe Lied auf die soziale Kompetenz des Einfühlungsvermögens zu hören ist. Ob Führungskräfte, Kollegen, Lehrerinnen, Schüler, Politikerinnen, Hunde-/Katzenbesitzer, Mütter und Väter sowieso, Großeltern erst recht – für uns alle gilt der empathische Imperativ: „Fühle Dich ein in Dein Gegenüber. Nimm die Welt aus den Augen des Anderen wahr. Entwickle Deine emotionale Intelligenz.“ Oder das Ganze als indianische Weisheit: „Urteile über keinen Menschen, ehe du nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bist.“

    Nun, auch wenn man Zweifel haben darf, ob das mit den Mokassins wirklich so eine klug durchdachte Idee ist: Die Sache mit der Empathie klingt doch erst einmal sehr einleuchtend – gerade in einer Gesellschaft, die immer pluralistischer wird. Die Gefühle des anderen wahrnehmen, sie verstehen und eventuelle sogar nachempfinden, das ist sicher gut. Wer möchte schon mit einem Menschen reden, von dem man weiß, dass er die eigenen Gefühle nicht versteht? Empathie als soziale Basis für eine bunte, offene Gesellschaft.

    So überzeugend das alles klingt, erlauben Sie mir doch ein paar Disharmonien in den Lobgesang einzutragen.

    – Zunächst einmal: Mit Empathie allein ist noch nichts gewonnen. Manipulative Menschen oder gar Sadisten sind in hohem Maße empathisch. Sie handeln nur eben trotzdem oder gerade deswegen hochproblematisch. Pointiert formuliert: Wir müssen uns Joseph Goebbels als einen empathischen Menschen vorstellen.

    – Die Ambivalenz der Empathie zeigt sich sodann etwa bei Katzenbabys. Es ist wohl das Leitmotiv unserer empathischen Gesellschaft schlechthin: „Oh, wie süß“. Der „cat-content“ auf Youtube umfasst zig-Millionen von Videos. „Wollen Sie die Click-Zahl Ihres Internet-Auftritts erhöhen, schaffen Sie sich eine Katze an!“ Die Frage ist nur: Wo sind eigentlich die Bilder von den Katzen, wenn sie alt, struppig, inkontinent sind, sie Würmer haben, ihnen die Haare ausfallen? Und auch Videos von Nacktmullen – obwohl ungefähr genauso groß wie Katzenbabys – findet man doch markant seltener. Unser Einfühlen in Fremde ist radikal selektiv, nicht nur bei Katzen.

    – Zudem sind auch die Ergebnisse von Empathie oft nicht unproblematisch, mitunter geradezu irreführend. Das ist wohl ein Grund dafür, warum die Menschen in früheren Zeit, wie die Stoiker, die „A-pathie“ priesen. Ein vernunftgemäßes Handeln, das sich gerade nicht von Gefühlen verwirren lässt. Ein Beispiel dafür ist etwa das sogenannte Stockholm-Syndrom. Es beschreibt das eigenartige Phänomen, wenn Geiseln auf einmal anfangen, zu ihren Geiselnehmern zu halten anstatt zu den Polizisten, die sie befreien wollen. Vielleicht kennen Sie es auch von Krimis, die aus der Perspektive des Täters geschrieben sind. Man hofft, dass der Mörder irgendwie davonkommt, auch wenn man weiß, dass er es eigentlich nicht sollte.

    – Empathie: Sie ist manipulativ missbrauchbar, selektiv, mitunter irreleitend und unscharf. Sie changiert: von der unmittelbaren Betroffenheit und Gefühlsansteckung („Sie lächeln – ich lächle“), über das emotionale Sich-Hineinversetzen und Nach-Empfinden (das Krankenschwestern wir: „Wie fühlen wir uns denn heute?“), bis zum perspektivischen Denken, der inneren Einnahme eines anderen Blicks.
    Wir brauchen Empathie – aber wir brauchen sie in anderer Gestalt.

    2. Fromme, Fremde und duale Erzählweisen

    Der barmherzige Samariter gilt wohl als das kulturelle Leitbild für Empathie in christlicher Tradition schlechthin. Das Gleichnis lehrt Empathie in einer sehr besonderen Weise (Lukas 10, 25-37): „Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte Jesus und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Jesus aber sprach zu ihm: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“ Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Und Jesus sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“ Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: „Wer ist denn mein Nächster?“ Da antwortete Jesus und sprach: „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber. Die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: „Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Der Gesetzeslehrer sprach: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Da sprach Jesus zu ihm: „So geh hin und tu desgleichen!“

    Es ist eine höchst subversive Geschichte:
    Sie ist zum einen subversiv, weil sie die Schlüsselfrage vom Anfang der Erzählung gleich auf doppelte Weise umdreht. Die Ausgangsfrage des Gesetzeslehrers zielt auf eine Abgrenzung, eine Definition. Und sie zielt auf den Nächsten als Objekt der Hilfe. „Wer ist denn mein Nächster?“ „Wer sind die Menschen, denen wir helfen sollen?“

    Und das schwingt ja mit: Wer gehört dann eigentlich nicht dazu? Am Ende der Geschichte ist daraus Frage eine Frage nach einer Entwicklung geworden und nach dem Nächsten als Subjekt des Helfens: „Wer ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Der Nächste ist hier der Mensch, der anderen hilft. Und er ist es nicht einfach, sondern er „wird“ es durch seine Tat. Bei der Frage, wie wir mit den Schwächsten unserer Gesellschaft umgehen, geht es letztlich darum, wer wir selber sind, wer ich bin oder werde: ein Nächster oder ein Egoist. Die Geschichte ist zum anderen subversiv, weil es ein moralisches crossover bei den Rollen gibt. Der Helfer ist der Samariter – der Andersgläubige, der Migrant, der Durchreisende. Nicht der Levit oder der Priester – die offiziellen Standes-Vertreter des religiösen Lebens.

    Literarisch lässt sich das Gleichnis am besten als doppelte Erzählung beschreiben, als „dual narrative“. Eine Einübung in Multiperspektivität. Wir sehen das Opfer räuberischer Gewalt am Straßenrand aus zwei Sichtweisen. Der Sicht der Frommen und der Sicht des Fremden. Da sind zunächst die beiden Frommen. Von ihnen wird jeweils gesagt: „Und als er ihn sah, ging er vorüber“. Mehr wird nicht gesagt. Kürzer und treffender lässt sich ihre Nichtanteilnahme nicht ausdrücken. Räumlich gesehen kommen ihre Wege dem anderen zwar unmittelbar nahe, aber sie werden nicht berührt. Sie sind und bleiben Passanten. Ist es Gleichgültigkeit, Indifferenz? Die Angst davor, sich unrein zu machen? Der Zeitdruck? Wir wissen es schlicht nicht. Sie sind auf dem Weg zum Opfern – und lassen das Opfer liegen. Immerhin: sie machen kein Selfie, wie es heute an Unfall- und Tatorten geschieht.

    Anders die Sicht des Fremden. Sie wird ausführlich und detailliert beschrieben. Zehn verschiedene Akte des Helfens sind es: Jammern, Hingehen, Öl und Wein gießen, Wunden verbinden, Hochheben, Wegbringen, Pflegen, Geld-Nehmen, Geben, Sprechen. Wie das Musterbeispiel aus einem Handbuch für Ersthelfer. Bis hin zur Zusage, dass er wiederkommt. Ihre Lebenswege berühren sich nicht nur, sie schneiden sich wiederholt.

    Die Empathie aber gilt in dem Gleichnis, wohlgemerkt, nicht dem Opfer. Sie gilt dem Helfer. Als Zuhörende müssen wir uns wie der Gesetzeslehrer damals für eine Sicht entscheiden: die Sicht der Frommen oder die Sicht des Fremden. Wir schauen als Dritte auf ihre Alternative. Es geht um das, was der Literatur- und Kulturwissenschaftler Fritz Breithaupt als eine narrative Empathie beschrieben hat. Sie ist reflexiv vermittelt, weil es in ihr darum geht, wer wir selbst werden wollen und in welchem Licht wir von daher den Anderen sehen: Als ein Hindernis auf dem Weg meiner alltäglichen Erledigungen? Oder im Licht des ewigen Lebens, das mein Handeln hier und jetzt bestimmt?

    3. Der Tod des Gleichnis-Erzählers

    Die eigentliche Pointe der Geschichte liegt aber darin, dass Jesus, der Gleichnis-Erzähler, später selbst unter die Räuber fallen wird. Der Gleichnis-Erzähler wird selbst zum Teil des Gleichnisses. Auch Jesus wird man ausziehen, schlagen und halb tot hängen lassen. Nur, dass die Räuber bei ihm Römer sind. Soldaten mit der Lizenz zum Foltern. Alles korrekt. Alles unter dem Mantel staatlicher Legitimation. Auch an diesem Gewaltopfer werden die Frommen vorübergehen. Sie werden ihre Köpfe schütteln und spotten: „Er hat anderen geholfen, jetzt helfe er sich selbst. Bist du der Christus, so steig herab vom Kreuz, dann wollen wir an dich glauben.“

    Hier sind sie jetzt: die hate-speech-Kommentare der Anderen. Doch auch bei dem Gekreuzigten gibt es die andere Sicht, den Blick des Fremden. Diesmal ist der Fremde ein römischer Hauptmann: „Fürwahr, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Am Ende des Lebens Jesu ist es einer von der dunklen Seite der Macht, einer der Täter, die sein Leiden am besten verstehen.

    Womit bei der Frage sind, was das Leiden Christi eigentlich mit dem Leid in dieser Welt zu tun hat – und unserer Fähigkeit zu Empathie. Die Pointe des Kreuzes Christi ist, dass es das ewige Leben, mein persönliches Heil nur zusammen mit dem Leid der Anderen gibt. Der Gleichnis-Erzähler ist selbst zum Teil des Gleichnisses geworden. Christus selbst stirbt am Kreuz, liegt halbtot schlagen an der Straße, ist unter die Räuber gefallen: „Was ihr einem dieser meinen geringsten Brüder getan habt (oder nicht getan), das habt ihr mir getan (oder nicht getan).“

    Aus Empathie – als Berührtsein, Sich-Hineinversetzen, Nachempfinden – wird so Compassion: eine Gemeinschaft im Leiden. Weil Gott selbst – das Ziel ewigen Lebens – selbst zum Leidenden geworden ist.

Theologische Impulse 12, von Dr. Thorsten Latzel