Welches Stück?

2.8.2019

Thorsten Latzel

Neulich nachts im Traum: Plötzlich stehe ich mitten auf einer Bühne. Links von mir sinkt ein junger Prinz zu Boden – auf dem Kopf eine ...

Neulich nachts im Traum: Plötzlich stehe ich mitten auf einer Bühne. Links von mir sinkt ein junger Prinz zu Boden – auf dem Kopf eine riesige Goldkrone – und verzweifelt am Sinn des Lebens: „Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden …“ Auf der anderen Seite ein innig sich umarmendes Liebespaar, das gerade intensiv über irgendwelche ornithologische Fachfragen streitet: Nachtigall oder Lerche. Plötzlich – wusch – wird sie von einem Pfeil angeschossen. Ein alter Mann in Alpentracht tritt auf die Bühne und schießt mit seiner Armbrust wahllos um sich. Der zweite Pfeil zischt knapp an meinem Ohr vorbei. Als ich ausweiche, stolpere ich über zwei Landstreicher, die sich gelangweilt mit einander unterhalten: „Komm, wir gehen!“ „Wir können nicht.“ „Warum nicht?“ „Wir warten.“ „Ach ja.“ Hilfesuchend blicke ich zur Souffleuse. Es ist meine alte Deutschlehrerin. Sie sitzt in ihrer Muschel und blättert in der Gala. Der alte Mann mit der Armbrust schaut mich an. Er sieht, zielt und schießt.

Ich wache auf. Die Bühne ist weg. Mein Bett ist da. Die Frage bleibt: Welches Stück spielen wir eigentlich?

„Denn wir sind ein Schauspiel geworden der Welt und den Engeln und den Menschen. Wir sind Narren um Christi willen.“ (1. Kor 4,9-10) Wow! Was für ein Bild: unser Leben als Schauspiel, dem die Menschen und die Engel und die ganze Welt zuschauen. Ein Gedanke, der mich auch tagsüber manchmal beschleicht: dass sich mein Leben erst wirklich erschließt, wenn ich es als Teil einer größeren Inszenierung begreife. Nur, dass leider keiner der Beteiligten das Drehbuch kennt.

Sechs wirre dramaturgische Gedanken – und eine Geschichte:

1. „Es gibt mehr als das, was es gibt.“
Mein Leben passt in keine Karokästchen. Es lässt sich nicht in die Flachware von Kalendern, Fotos oder Facebook-Profilen pressen – auch wenn ich es immer wieder versuche. Glaube ist die Erfahrung, dass mein Leben auf einmal eine neue Perspektive gewinnt, sich eine andere Dimension auftut – wie die vierte Wand im Theater: Wenn meine Welt zur Bühne wird, meine Zeit zur Ewigkeit, mein Leben zur Liebe. Der Zaubermoment, in dem ein Punkt auf meiner Lebenslinie sich als „tanzender Stern“ entfaltet.

2. „Was ich tue, spielt eine Rolle.“
Wichtig ist letztlich nicht, was ich bin oder welche Rolle ich spiele: ob Kaiser oder Küster, Baron oder Bettler, Präsident oder Pförtner. Wichtig ist, dass ich spiele, dass ich mich spiele. Und dass das, was ich tue, gesehen wird und von Bedeutung ist – bis in alle Ewigkeit. Es ist Teil des einen großen Films, der einen ewigen Erinnerung.

3. „Unter dem Blickwinkel der Ewigkeit sieht vieles anders aus.“
In meinem täglichen Sorgen, Planen, Schaffen fahre ich auf mittlere Sichtweite, denke ich in Wochen, Monaten, Jahren. In der Perspektive der Ewigkeit dagegen wird der Augen-Blick unendlich wichtig. Dieser konkrete Moment meiner Begegnung mit dem anderen. Ewigkeit und Augen-Blick sind die beiden Zeiteinheiten der Liebe. Alles andere ist bloße Chronologie.

4. „Es braucht den Mut, sich geistlich zum Narren zu machen.“
Wenn wir zu Ebenbildern Gottes berufen sind, kann mein Leben nach weltlichem Ermessen nicht sinnvoll sein. Wir sollen so leben, dass es ohne Gott als Geheimnis der Welt keinen Sinn ergibt. „Tut um Gottes willen etwas Tapferes“ (Ulrich Zwingli), etwas Verrücktes, etwas Queres. Die Kunst zu leben und zu lieben besteht darin, für andere zu spielen, ohne auf die anderen zu schielen.

5. „Das Stück ist offen, aber der Ausgang gewiss.“
Im Buch des Predigers finde ich das wunderschön beschrieben: Gott hat alles weise geordnet. Auch hat er die Ewigkeit in unser Herz gelegt. Nur, dass wir als Menschen nicht ergründen können das Werk, das Gott tut. Zu den großen Geheimnissen Gottes gehört es, dass er sich freiwillig selbst zurücknimmt. Er macht für uns die Bühne frei. Das Stück ist offen, aber der Ausgang ist gewiss. Und es ist auch an uns, dass wir es für einander möglichst nicht zur Tragödie, Farce oder zum absurden Theater werden lassen.

6. Und wie heißt das Stück? Mein Vorschlag: „Liebe, Leid und Zeit und Ewigkeit“
Drunter geht es nicht. Um die Liebe zu dieser ganzen wunderbaren Welt und jedem einzelnen Geschöpf auf ihr. Um das Leiden, dass die Welt, das Leben, ich selbst nicht so sind, wie sie sein sollten. Um die Zeit, die tickt, zerrinnt, läuft, fließt und nicht zu halten ist.
Und um die Gewissheit der großen Ewigkeit Gottes, in der am Ende Gott einmal alles in allem sein wird.

„Denn wir sind ein Schauspiel geworden der Welt und den Engeln und den Menschen.
Wir sind Narren um Christi willen.“

Zum Schluss eine jüdische Geschichte, die mir meine Schwester einmal weitererzählt hat. Der Lebenstraum des frommen Schuhmachers Jakob:

Eines Morgens – man sagt, es war ein Dienstag – wachte der fromme Schuhmacher Jakob auf und lachte. Lachte so laut, dass seine Frau Elisabeth neben ihm wach wurde und ihn heftig anfuhr:
– „Jakob, was lachste so ungescheit?“
– „Ich hatte einen Traum.“
– „Ja, und? Was haste geträumt.“
– „Mir träumte, dass ich in den Himmel kam, in einen riesigen Königssaal mit tausenden und abertausenden von Menschen. Und vorne im Saal saß Gott auf einem leuchtenden Thron aus Licht. Und als ich ganz hinten durch eine kleine Seitentür in den Saal kam, da sprach Gott von seinem Thron: ‚Seht, da kommt der treue und gute Schuhmacher Jakob, der stets gelebt hat, wie es Gott gefällt: ein treuer, liebevoller Ehemann, ein fleißiger, hilfsbereiter Arbeiter, ein guter Freund allen Menschen. Komm und setzt dich an meinen Tisch.‘ Und alle tausenden und abertausenden Menschen schauten mich an.“
– „Na und? Was haste gemacht?“
– „Ich trat vor und schlug die Augen nieder und sagte: ‚Ach, Herr, es stimmt ja, dass ich meiner Frau nie untreu war. Aber eigentlich nur, weil ich mich nicht getraut hab und sowieso nicht so gut aussah. Und dass ich so fleißig war, nu ja: ich hatte Angst vor der Armut und da waren die Schulden auf dem Haus. Und meine Freundlichkeit, die war oft einfach nur Schutz. Ich mag mich halt nicht streiten und hatte Sorge, dass die Leute schlecht von mir reden.‘ Und als ich aufblickte, da sah ich, wie Gott lachte, laut lachte mit einem warmen strahlenden Lächeln auf dem Gesicht.“
– „Sag mal, Jakob. Bist du närrisch? Niemand darf Gott von Angesicht schauen. Auch nicht im Traum. Das ist Sünde.“
Jakob überlegte kurz. Dann sagte er: „Ja. Das stimmt. Endlich eine richtig schöne, große Sünde.“ Und er lachte und lachte und konnte gar nicht mehr aufhören.

Theologische Impulse 30, von Dr. Thorsten Latzel