Ich liebe den Reformationstag. Weil es an ihm zur Sache geht. Richtig zur Sache. Das meint nicht, einfach zur Sache der evangelischen Kirche. Auch, wenn der Tag lange so gefeiert wurde. Als ein Fest protestantischer Pausbäckigkeit. Man plusterte sich konfessionell ordentlich auf (soweit das bei aller evangelischen Nüchternheit möglich ist), lauschte mit frommer Ergriffenheit, wie die Hammerschläge des einsamen Mönchs aus Wittenberg in der wortgewaltigen Predigt des Pfarrers widerhallten, und sang dann mit tiefer Inbrunst „Ein feste Burg ist unser Gott“ als eine Art reformatorischer Marseillaise. Wobei offenblieb, ob die feste Burg „Gott“ war oder mehr das eigene religiöse Gefühl, die persönliche protestantische Gesinnung. In jedem Fall war es „unser“ Gott. Nicht der der anderen.
Ja, am Reformationstag geht es zur Sache. Doch nicht zur Sache der eigenen Konfession oder Kirche. Da wäre der Mönch aus Wittenberg gründlich missverstanden. Die erste seiner 95 Thesen lautete: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße!‘, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Das widerspricht jeder Form religiöser oder gar konfessioneller Rechthaberei. Mit Paulus gesprochen: „Wer meint, etwas erkannt zu haben, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Wer aber liebt, der ist von Gott erkannt.“
Nein, der protestantischen Plusterigkeit ist längst die Luft rausgelassen: sei es der einer religiösen Rechtgläubigkeit, einer moralischen Überlegenheit oder einer familiären Harmoniekultur. Auch die ForuM-Studie in diesem Jahr hat das in aller Klarheit aufgezeigt. Nicht nur, dass Menschen im Raum der Kirche Gewalt angetan wurde. Ihnen wurde zudem nicht geglaubt, wenn sie es anderen erzählten. Ihr Leid wurde oft jahrelang nicht wahrgenommen, anerkannt, geschweige denn aufgearbeitet. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte: „Doch nicht bei uns! Nicht unser Jugendleiter, Organist, Pfarrer.“
Dieser Zahn ist unseren Gemeinden, uns allen gezogen. Hoffentlich. Wir sind keine „bessere Kirche“, keine „Gemeinschaft der Reinen“ und waren dies auch nie. Das ist theologischer Humbug. Im Gegenteil haben ein falsches Harmoniebedürfnis und die Unfähigkeit, mit Schuld umzugehen, dazu geführt, dass sexualisierte Gewalt oft unerkannt blieb und verschwiegen wurde. Ja, am Reformationstag geht es zur Sache. Zur Sache des Glaubens. Darum, worauf es eigentlich ankommt – im Leben und darüber hinaus.
Auf die Frage gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Hier drei Möglichkeiten.
1. Die Antwort des ästhetischen Genussmenschen: Im Leben geht es um Lust, ums Genießen. Mein Mercedes-Porsche-Ferrari steht in der Garage. Meine Insta-Storys platzen förmlich vor lauter Prosecco-Glücksmomenten. Im Sommer auf Ibiza, im Winter in St. Moritz. Dazwischen Malediven. „Und am Ende der Straße steht ein Haus am See. Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön. Alle komm’n vorbei, ich brauch nie rauszugehen.“ Wäre da nur nicht dieses störende Leid in der Welt. Und überhaupt die höchst unangenehme Vergänglichkeit des Lebens. Wie auf dem Spruch alter Friedhöfe: „Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr.“
2. Die Antwort des ethisch engagierten Verantwortungsmenschen: Im Leben geht es darum, gut zu handeln. Sich einzusetzen für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Ich lebe vegan. Fliegen sei mir ferne. Ich geb‘ den Zehnten für Amnesty, Greenpeace, Brot für die Welt. Donnerstags kauf ich für meine Nachbarn ein, freitags geh ich zur Demo und samstags säubere ich die Rheinauen. Alles ebenfalls wohl dokumentiert in meiner Storyline. „Muss nur noch kurz die Welt retten […] Noch 148 Mails checken. Wer weiß, was mir dann noch passiert. Denn es passiert so viel. Muss nur noch kurz die Welt retten. Und gleich danach bin ich wieder bei dir.“ Dennoch bleibt auch da oft das Gefühl, dass etwas fehlt. Das Ziel nicht zu erreichen. So wie beim reichen Jüngling: „Das alles habe ich getan von meiner Jugend an.“ Was muss ich noch tun, um das ewige Leben zu erben?
3. Die Antwort des religiösen Menschen: Im Leben geht es darum, zu glauben, lieben, hoffen – ganz für Gott zu leben. So wie etwa der junge Mann Martin Luther. Er schießt sein Jurastudium in den Wind, sehr zum Ärger seines Vaters. Wird Mönch, geht ins Kloster, extra in einen strengen Orden der Augustiner-Eremiten, studiert Theologie. Asketisch fromm, mit täglichem Bibelstudium, Beten, Beichten. Die spirituell harte Tour. Doch auch die religiöse Antwort führt in eine Sackgasse. Zumindest bei Luther. Ihn treibt permanent die Frage um: Wie kann ich vor Gott bestehen? Damit bringt er sich selbst und seinen Beichtvater Johann von Staupitz schier zur Verzweiflung – weil es nie reicht, er nie sicher ist, weil immer ein Zweifel bleibt. Bis er beim Lesen eines Abschnitts des Römerbriefs von Paulus neu auf den Zusammenhang der Worte achtet – und sich ihm, wie er es selbst formuliert, mit einem Mal die Türen zum Paradies auftun.
Dies ist der Abschnitt aus Röm 3,21ff., den er damals gelesen hat:
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
Das Ganze klingt ziemlich theologisch abstrakt: Gesetz, Gerechtigkeit, Glaube, Blut, Sünde, Werke. Die befreiende Erkenntnis für Luther aber ist: Ich kann vor Gott gar nicht bestehen. Keiner kann das. Wir sind und bleiben Bettler, die nackt und bloß dastehen. Wir scheitern alle an dem, worauf es eigentlich ankommt – egal, wie sehr wir es auch versuchen, und egal, ob wir besonders ästhetische, ethische oder religiöse Menschen sind. Oder in den Worten des Paulus: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen.“
Die Pointe ist dann jedoch, dass Gott für uns macht, worauf es ankommt. Auch wenn wir nackt und bloß sind, lässt Gott uns gut dastehen. Gott hüllt uns in das Kleid seiner Liebe und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit meint hier eben nichts, was wir aktiv leisten können. Sondern es ist etwas, was Gott an uns tut. Noch einmal O-Ton Paulus: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Nun wird ja immer wieder gesagt, dass die Frage von Luther oder Paulus heute unverständlich sei. Niemand fragt heute mehr: „Wie werde ich gerecht vor Gott?“, selbst, wenn sie denn überhaupt noch an einen Gott oder ein Jenseits glauben. Die Foren, vor denen wir bestehen müssen, sind heute viel diesseitiger, ohne Gott und Gerechtigkeit. Etwa bei den bald kommenden Weihnachtsfeiern im großen Verwandtenkreis: Wie weit bist Du denn jetzt mit deinem Studium? Und immer noch Single? Beim Abitreffen nach 20 Jahren: Und, was ist aus dir geworden? Beruf, Familie, Haus? Oder zum Ende des Lebens hin die Frage: Was bin ich noch wert – jetzt, wo ich körperlich, geistig, beruflich nichts mehr reißen kann? Wenn ich nur noch die immer gleichen „sad stories about glory days“ erzählen kann. Wie stehe ich da: vor den anderen, vor mir selbst, vor dem Leben, vor Gott als dem Gegenüber in letzten Momenten der Einsamkeit?
Hier bekommt die Erkenntnis von der „Rechtfertigung allein aus Glauben“ für mich eine ganz neue Aktualität. Letztlich stehen wir alle nackt da. Egal, ob Anwältin, Bankmanager, Politikerin oder Pfarrer. Worauf es ankommt – im Leben und darüber hinaus, können wir uns nur schenken lassen. Dieser Glaube kann uns frei machen, dass wir mit der Blöße und Nacktheit anderer anders umgehen. Mit der Blöße derjenigen, die tatsächlich lange keinen neuen Pulli mehr angehabt haben. Die am Bahnhof Flaschen sammeln und vor dem Supermarkt Straßenzeitungen verkaufen. Wenn wir stehen bleiben, nicht wegschauen, diesen Menschen wahrnehmen, respektvoll mit ihm umgehen, nachfragen, nicht urteilen, sondern einfach etwas von unserem Geld teilen. Die vier, fünf Euro machen mich nicht arm, aber bedeuten für mein Gegenüber mehr als für mich. Das ist noch kein Mantelteilen, wie es Sankt Martin gemacht hat, aber ein anderer Umgang.
Mit der Blöße derjenigen, die bei mit ihren teuren Autos, ihrem perfekten Outfit und ihren Designerklamotten kaum die Leere und Sehnsucht in sich verdecken können. Die selbst einfach angesehen sein wollen, doch das mit ihrem Bild nach außen gerade verdecken. Wenn wir uns nicht blenden lassen, nicht abwenden, diesen Menschen wahrnehmen, respektvoll mit ihm umgehen, nicht urteilen, sondern etwas Zeit, Anerkennung, vielleicht sogar Freundschaft teilen. Das kann Menschen tief verändern. Wie beim reichen Zachäus, der alleine auf seiner Palme sitzt, bis Jesus ruft: „Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein.“ Je protziger der Pelzmantel, desto größer manchmal die Blöße darunter.
Mit der Blöße derjenigen, die sich selbst nicht mehr von ihrer Hülle unterscheiden können – und nicht wissen, wer sie noch sind, wenn sie ihren Arztkittel, Anzug, Talar oder die Uniform ausziehen. Die ständig posten und online sein müssen, weil sie die Leere in sich nicht ertragen können. Oder von denjenigen, die auf alles und jeden schimpfen müssen, weil sie sich selbst nicht lieben können. Den Hatern, Hetzern und Verhärteten. Wenn wir stehen bleiben, nicht wegschauen, diesen Menschen wahrnehmen, respektvoll mit ihm umgehen, nicht urteilen, sondern ein Gefühl von Achtung vor sich selbst und vor anderen mitgeben.
In der Bibel wird immer wieder davon berichtet, wie Menschen lernen, mit der eigenen Blöße und der Blöße anderer anders umzugehen. Angefangen von Adam und Eva im Paradies, die von Gott gekleidet werden, über Joseph und seine Brüder und ihren Streit um das bunte Kleid des Auserwählten bis hin zum verlorenen Sohn, der am Ende ein neues Kleid erhält. „Ich bin nackt und bloß gewesen und ihr habt mich gekleidet.“ Das nennt Jesus als Maßstab für das Jüngste Gericht. Und darauf kommt es an – im Leben und darüber hinaus. Dass Gott uns gut dastehen lässt, uns hüllt in das Kleid seiner Liebe und Gerechtigkeit. Und dass wir darum so mit der Blöße anderer umgehen, sie kleiden mit Respekt und Würde. Damit wir gemeinsam gut dastehen – vor uns selbst, vor einander und miteinander vor Gott.
Theologische Impulse (148) von Präses Dr. Thorsten Latzel
Weitere Impulse: www.glauben-denken.de
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Ihre Gedanken sind von vielfältiger Natur, Herr Latzel. Darauf noch etwas zu erwidern fällt schwer.
Dennoch möchte ich in den Dialog gehen. Der Reformationstag erinnert mich daran, dass Dr. Martin Luther den Glauben an Gott wieder auf die Erde geholt hat. Nachdem sich die Päpste der Kurie ganz vom Vorbild des Simon Petrus entfernt hatten, rückte damit auch Gott immer mehr in die Ferne. Darauf hat Martin Luther hingewiesen, wohl heftiger als es die Kirche bis dato gewöhnt gewesen war.
Trotzdem sehe ich die Kirche von Jesus Christus durch Simon Petrus immer noch getragen. Dieser Anfang gehört zur Kirche dazu. Denn nur dies
e Kirche ist die, die „nicht einmal der Saran persönlich zerstören kann“.
Sich diesem Fels anschließen bedeutet die Kirche von Jesus Christus zu ehren und sie zu leben. Alles andere ist menschlich und vergänglich.
In diesem Bewusstsein bekommt auch die Reformation wieder Sinn. Durch sie ist die Kirche wieder zu den einfachen Gläubigen gekommen. So wie die Urgemeinden der Christen nahe bei ihnen gewesen sind. Das Machtgehabe der späteren Päpste hat sie nicht gefördert.
Die Blöße, die mit Pelzmänteln verdeckt worden war, hat Luther als Leere enttarnt. Mit mehr Schein als Sein konnte die Kirche des Mittelalters nicht beständig aufrechterhalten werden. Das entsprach nicht Gottes Vorstellung von seines Sohnes Kirche. Schön gekleidet, auch feierlich, ist alles andere als protzig. „Seht her, was ich bin!“ oder „Ich kleide mich, damit meine Blöße verdeckt wird, denn mein Schamgefühl gebietet mir dies!“ sind Einstellungen, denen man schon ihre Absichten zuordnen kann. Bei ersterer ist Leere in den Menschen, die nicht mit Gott gefüllt ist. Diese werden auch niemals zufrieden sein, falls sie ihre Spielchen fortführen.